25.02.2022

Seltene Krankheit sichtbar machen

Für die Familie Dellai-Schöbi besteht das Alltagsleben in der Aneinanderreihung vieler kleiner Schritte.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 02.11.2022
Gert Bruderer Das Lachen platzt regelrecht aus Andrina heraus. Sie strahlt, als wäre das Leben ein einziges Glück. Mit anderen Kindern kann sie sich nicht verständigen.Die Elfjährige, die seit sechs Jahren die Heilpädagogische Schule in Heerbrugg besucht, ist weltweit einer von fünfzig Menschen, die mit einer 10p-Deletion leben. Die technokratisch wirkende Bezeichnung rührt daher, dass in Andrinas Körper ein Stück des Chromosoms 10p fehlt.Von einer Therapie zur nächstenJahrelang war der Alltag mit Andrina geprägt von Therapien und Kontrollen im Ostschweizer Kinderspital, im Kantonsspital St. Gallen, beim Kinderarzt, beim Pädakustiker (Hörgeräte) und beim Orthopädisten (Orthesen). Andrina war am Anfang Patientin in sieben Fachbereichen, nun sind es noch sechs.Für die Eltern, Katharina und Benno Dellai-Schöbi, ist der Alltag mit Andrina eine «Gratwanderung zwischen Therapeuten- und Eltern-Sein». An vielen Tagen fühlen sie sich wie Physiotherapeutin, Logopäde, Audiopädagogin und Heilpädagoge in einem, an anderen sind sie nur Mutter und Vater. «Wir haben Glück, dass Andrina sehr fröhlich ist», sagt die Mutter.Symbole zeigen, was der Reihe nach kommtDas Gefühl der inneren Zufriedenheit, das Andrina den Eltern vermittelt, hilft ihnen, den Alltag zu meistern, aus Belastung eine positive Kraft zu schöpfen. Liebevoll und unermüdlich wird versucht, Andrina kognitiv, sprachlich, motorisch voranzubringen. Seit Kurzem sagt das Kind «Hallo». Andrina sagte aber auch schon fleissig «Papa», sprach das Wort sodann vier Jahre nie mehr aus – und sagt es plötzlich wieder. Eine Treppenstufe aufwärts hat sie bisher nie gemeistert. Geübt wird mit Ablaufplänen, zum Beispiel beim Anziehen. Anschaulich stellen Symbole dar, was nacheinander kommt. Die Hose anzuziehen, schafft das Kind inzwischen gut. Nach jedem Teilerfolg wird das dazugehörende Symbol mit einer Klappe abgedeckt.Wunsch nach einem Alltag ohne VorurteileWeshalb sind die Eltern bereit, für einen Zeitungsbeitrag über die seltene Krankheit der Tochter Auskunft zu geben? Es ist der gleiche Grund, der sie bewogen hat, eine eigene Website über Andrinas Krankheit aufzuschalten: Sie soll sichtbar sein.Der Offenheit wohnt der Respekt vor jedem Leben inne, auch der Wunsch nach einem Alltag ohne Vorurteile. Es kommt (wenn auch selten) vor, dass Leute ihre Fehleinschätzung zu erkennen geben, Andrina sei schlecht erzogen, die Eltern schauten ihr zu wenig. Auch schon gaben sich Erwachsene schockiert, indem sie meinten: «Mein Gott, da Chind hät jo ä Hörgrät, ghört’s dänn nöd guet?»Eine Bezeichnung wie ein dumpfer SchlagEin Wort, das in Katharina und Benno Dellais Ohren klingen muss wie ein dumpfer Schlag, hat die IV erfunden. Dieses Wort wirkt noch ein bisschen technokratischer als die Bezeichnung für die Krankheit. Wer es ausspricht, spürt vielleicht so etwas wie ein Fehlen von Gerechtigkeit. Es geht um die Geburtsgebrechennummer, welche sich im Mund mit jeder Silbe selbst zu einem schmerzenden Gebrechen aufzublähen scheint.Nummer entscheidet, ob IV Kosten übernimmtDie Nummer ist entscheidend, wenn es um die Frage geht, ob von der IV Kosten übernommen werden. Mit ein bisschen Glück passt ein Symptom zur Definition eines anerkannten Geburtsgebrechens. Jedoch ist die IV beispielsweise nicht bereit, Andrina trotz motorischer Probleme eine Physiotherapie zu gönnen. Gut, springt je nachdem die Krankenkasse in die Bresche.Katharina und Benno Dellai-Schöbi hielten es für wünschenswert, wenn neben weiteren Syndromen speziell auch seltene Krankheiten als Geburtsgebrechen anerkannt würden. Der Weg zu solcher Akzeptanz gestaltet sich wie das Zusammenleben mit Andrina, jedem Schrittchen folgt ein nächstes, bis vielleicht von tausend Schwierigkeiten eine einzelne bewältigt ist. Mit viel Papierkram wird viel Energie verschwendet, die im Grunde nicht vorhanden ist.Nachzulassen, ist keine OptionAndrina fehlt oft die Motivation, sich für irgendetwas zu interessieren; ihre Eltern hingegen dürfen nicht nachlassen. Dazu gehört, wichtige Neuigkeiten wie den Bundesgerichtsentscheid vom 27. Januar 2012 wahrzunehmen. Es ging um Kinder, die auf Windeln angewiesen sind, um die gerichtliche Feststellung, dass ab einem Alter von fünf Jahren von einer totalen Inkontinenz auszugehen sei. Doch selbst ein Kampf aufgrund gerichtlicher Entscheide kann noch mühsam sein.Hilfreich ist der Austausch in den sozialen Medien. Auf Facebook gibt es zur 10p-Deletion eine Gruppe mit gut hundert Mitgliedern weltweit, doch auch hierzulande vermitteln sich Eltern gegenseitig Spiel- und Förderungsideen, Hinweise auf Hilfsmittel und praktische Ratschläge unterschiedlichster Art. Die Familie Dellai-Schöbi ist sowohl Mitglied im Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten als auch bei Procap.Kommunikation soll keine Frage des Glücks seinVor allem die Schulferienzeit ist für die Eltern sehr anstrengend. Lange Zeit kam erschwerend dazu, dass Andrina nachts nie durchschlief, sondern immer wieder spielen wollte. Anders als das flüssig verabreichte Melotonin genügen die seit zwei Jahren zugelassenen Tabletten für durchgehenden Schlaf.Dankbar sind die Eltern für den Entlastungsdienst, den sie monatlich während drei Stunden in Anspruch nehmen, und die Teilnahme Andrinas am Ferienlager von Insieme im letzten Jahr ermöglichte es ihnen, zum ersten Mal eine ganze Woche Ferien zu machen – wenn auch in Rufnähe, in Vorarlberg.Benno Dellai ist Oberstufenlehrer, seine Frau arbeitet als Wissenschaftsjournalistin und war vor Andrinas Geburt auch als Gymnasiallehrerin für Biologie tätig gewesen. Seit 2020 besorgt sie Übersetzungen in Leichte Sprache und barrierefreie Kommunikationsangebote mit Symbolen. Die Gruppe «Geballte Power für UK Schweiz», der die Altstätterin angehört, wird im Frühjahr die Petition «Eine Stimme für Menschen ohne Lautsprache» lancieren. Es geht darum, jenen Menschen Kommunikation zu ermöglichen, die wegen einer Behinderung, Krankheit oder Verletzung nicht (mehr) in der Lage sind, sich über Lautsprache mitzuteilen. Katharina Dellai-Schöbi sagt: «Das Recht auf Kommunikation ist ein Menschenrecht. Ob Menschen mit eingeschränkter oder fehlender Lautsprache Zugang zu Unterstützter Kommunikation erhalten, darf deshalb keine Frage des Glücks sein.» HinweisDie Website der Familie hat die Adresse www.10pdeletion.ch.

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