Man stelle sich einen Freitag an einer Oberstufe vor. Um 16 Uhr läutet die Schulglocke das Wochenende ein. Alle Schüler gehen nach Hause. Es bleiben nur jene, die sich mit gesellschaftlichen Themen aus christlicher Sicht auseinandersetzen möchten. Diese Lektionen wären wohl kaum gut besucht, egal wie interessant sie gestaltet sind.Diese Entwicklung wollten die Landeskirchen verhindern. Sie wehrten sich vehement dagegen, dass ihnen die Verantwortung für den Ethikunterricht (ERG Kirchen) entzogen werden sollte. Erfolglos, der Bildungsrat (bis 2020 Erziehungsrat) entschied anders. Ab dem neuen Schuljahr unterrichten nur noch die Schulen das Fach Ethik, im Klassenverband. Die Kirchen dürfen weiter Religionsunterricht erteilen (siehe Zweittext).«Religion und Ethik gehören an die Schule»Religion dort in der Stundentafel zu platzieren, wo parallel kein anderes Fach steht, kommt für Markus Waser nicht in Frage. «Das wäre ein falsches Signal. Religion ist kein Anhängsel», sagt der Schulleiter der OMR (Oberstufe Mittelrheintal, Heerbrugg). Er begrüsst den Ethikunterricht. «Die Gesellschaft ist durch Corona gespalten und es ist wichtig, sich mit den Werten zu befassen.» Auch die Kirchen sollten ihren Beitrag leisten. Also bietet die OMR Hand, einen für Schüler attraktiven Religionsunterricht zu gestalten.Markus Waser hatte zu den Kirchen im OMR-Gebiet bereits einen Draht gezogen, als der Erziehungsrat im Jahr 2012 eine Lektion Religion aus dem Stundenplan der Oberstufe gestrichen und den ERG-Unterricht (Ethik, Religion, Gemeinschaft) eingeführt hatte. Letzteren besuchten jene Schüler, die nicht in die christliche Religion gingen (Muslime, Andersgläubige, Atheisten). Die Kirchen gestalteten ihren Religionsunterricht fortan in Einklang mit der Schule in Form zweier Projekttage.Religion wird zum WahlfachAb dem neuen Schuljahr integriert die OMR die Religion als Block in den Wahlfachbereich. In der dritten Oberstufe ist sie als Wahlpflichtfach anerkannt. Die Blöcke fallen in den Regelunterricht und die Freizeit (Mittwochnachmittag/Samstagmorgen).An die Stelle von ERG Kirchen rückt wieder der Religionsunterricht. Eine kirchlich/schulische Arbeitsgruppe hat ein ökumenisches Konzept erarbeitet. Die katholischen und reformierten Oberstufenschüler aus Heerbrugg, Balgach, Au und Berneck erarbeiten verschiedene gesellschaftliche Themen aus der Sicht ihrer jeweiligen Konfession. Dieser Tage erhalten sie und ihre Eltern einen Brief mit dem genauen Programm. In mehreren Themenblöcken erörtern die katholischen Jugendlichen Fragen zum Judentum, zu Armut und Hoffnung, eigenen Talenten sowie Jesus. Die reformierten Schüler befassen sich zum Beispiel mit Weltreligionen, Rassismus, Freiheit und Verantwortung oder dem Leben mit einer Behinderung. Für sie ist die Teilnahme in der 3. Oberstufe Voraussetzung für die Zulassung zur Konfirmation.Bei aller Freude über die erarbeitete Lösung übt Markus Waser Kritik am Bildungsrat. «Die Vorlaufzeit war mit einem Dreivierteljahr zu kurz», sagt er. Da ERG nur noch von der Schule erteilt wird, muss der Schulleiter 23 Lektionen mehr organisieren als im Vorjahr. Das entspricht annähernd einem Vollzeitpensum.Niemand verlor seine ArbeitsstelleFällt ERG Kirchen aus dem Stundenplan raus, werden Katecheten womöglich nicht mehr gebraucht. Den kirchlichen Trägern auf OMR-Gebiet ist es gelungen, niemanden entlassen zu müssen. Für jeden haben sie ein anderes Feld gefunden. So war der Aufwand für Aus- und Weiterbildung nicht vergebens.Markus Waser denkt bereits über Anpassungen nach: «Ich stelle mir vor, dass das Religionsprogramm einmal allen Schülern zugänglich sein könnte», sagt er.Altstätten und Re-Ma sind ökumenisch unterwegsEntlassungen zu verhindern, ist auch den Kirchgemeinden in Altstätten gelungen. Sie führen den ausgesetzten Religionsunterricht wieder ein. Ab dem neuen Schuljahr organisieren ihn die Kirchen ökumenisch. Marco Schraner ist Schulleiter im Bild-Institut-Klaus in Altstätten und Mitglied des Verwaltungsrates der katholischen Kirchgemeinde. Er spricht wie Markus Wasser (OMR) von einem Signal: «Die Landeskirchen dürfen sich nicht in ihre eigene Konfession zurückziehen», sagt er. Es sei wichtiger denn je, dass die Ökumene auch im Religionsunterricht zum Ausdruck komme. In der Primarschule ist dies seit Jahren Praxis.Der Religionsunterricht an der Altstätter Oberstufe wird keine Randerscheinung. Die wöchentliche Lektion ist Teil des Stundenplans. Marco Schraner findet es erfreulich, dass sich zum Stichtag nicht mehr als fünf Prozent der Jugendlichen abgemeldet haben.Das Oberstufenzentrum Rebstein-Marbach führt den Religionsunterricht auch wieder ein, voraussichtlich in der ersten Lektion am Donnerstag – und ökumenisch. «Es muss eine Randstunde sein, damit die übrigen Schüler keine Zwischenlektion haben», sagt Schulleiter Jürg Germann. «Das ist nicht so sehr unattraktiv, wie es am Mittwochnachmittag wäre.»Tandem mit Schule und Kirche läuft ausAuch in der Primarstufe verantworten und unterrichten die Schulen ERG ab dem neuen Schuljahr allein. Am konfessionellen Religionsunterricht ändert sich hingegen nichts. Erstkommunikanten werden weiter in der dritten Klasse vorbereitet.In Heerbrugg unterrichten die Kirchgemeinden die katholischen und reformierten Kinder seit einigen Jahren gemeinsam. Um getrennte Religionsgruppen zu führen, sind die Jahrgänge zu klein. «Unsere Erfahrungen sind so gut, dass wir das Modell auf ERG übertragen haben.», sagt Marion Höpfner. Ihr obliegt im Verwaltungsrat der katholischen Kirchgemeinde das Ressort. Im ERG-Tandem bleiben die Kinder im Klassenverband. Je nachdem, welches Thema ansteht, erteilt entweder der Klassenlehrer oder ein Kirchenvertreter die Lektion. Das organisiert jede Klasse für sich. «Das Tandem ist sehr gut angekommen», sagt Marion Höpfner. «ERG heisst Ethik, Religion und Gemeinschaft. Da ist es recht, dass sich die Kinder gemeinsam mit gesellschaftlichen Themen befassen und auch kirchliche Lehrer haben.»Höpfner bedauert, dass das Tandem-Modell ausläuft. Sie möchte erreichen, dass die Kirchen vereinzelt Projekte in den ERG-Unterricht einbringen können. «Die Klassenlehrer könnten bei religiösen Themen kirchliche Ansprechpersonen einbeziehen.» Ein Katechet wäre dann ähnlich wie ein Polizist als Referent zu Gast. Ein Fuss bleibt in der SchultürAls der Kanton St. Gallen zum Schuljahresbeginn 2017/2018 den Lehrplan 21 einführte, ging er schweizweit einen Sonderweg. Als einziger Kanton unterteilte er das bisherige Fach ERG (Ethik, Religion, Gemeinschaft) in einen schulischen und einen kirchlichen Teil. Seither dürfen Eltern für ihre Kinder ab der dritten Primarklasse zwischen den Wahlpflichtfächern ERG Schule und ERG Kirchen entscheiden. Für diese wöchentliche Lektion wird der Klassenverband in Gruppen unterteilt. Die Klassenlehrer unterrichten die Schüler im Fach ERG Schule, die von den evangelischen respektive katholischen Kirchen ausgebildeten und angestellten Katecheten lehren ERG Kirchen.Diese Sonderlösung läuft im Sommer aus. Im vergangenen November entschied der Bildungsrat des Kantons St. Gallen, mit dem Beginn des Schuljahres 2021/2022 die Unterteilung aufzugeben. Sowohl in der Primarschule als auch in der Oberstufe wird künftig das Fach ERG nur noch schulisch erteilt – und zwar von den Klassenlehrern sowie im Klassenverband. Somit verlieren die beiden Landeskirchen an Einfluss in den Schulen. Ein Zugeständnis machte der Kanton allerdings: Die Schulen sind gemäss Volksschulgesetz weiter dazu verpflichtet, den Religionsunterricht in den Stundenplan aufzunehmen und die Räume unentgeltlich bereitzustellen. Die Landeskirchen bleiben somit Teil des Schullebens, wenn auch ein kleinerer. Diesbezüglich unterscheidet sich St. Gallen immer noch von jenen Kantonen, die den Lehrplan 21 eingeführt haben.