Riccarda Dietsche sitzt an diesem Novemberabend gemütlich zu Hause und liest ein Buch. Wäre es ihre eigene Biografie, würde das erste Kapitel wohl «Olympia-Medaille in Griffnähe» oder «Die schnellsten Schweizer Sprinterinnen» heissen. Es war am 6. August 2021, als viele sportverrückte Rheintalerinnen und Rheintaler mitten in der Nacht vor dem Fernseher sassen und beim Olympia-Final der 4×100-Meter-Staffel der Athletin des KTV Altstätten die Daumen drückten. Im Vorlauf hatten Riccarda Dietsche, Ajla Del Ponte, Mujinga Kambundji und Salomé Kora den nach wie vor gültigen Schweizer Rekord um 13 Hundertstel auf 42,05 Sekunden gesenkt und sich souverän für den Final qualifiziert. Alles sprach von einer Medaille.
Wir träumten davon und wussten, dass es möglich ist, diese zu erreichen. Das war ein cooles Gefühl
erzählt Riccarda Dietsche vom wohl schönsten Moment ihrer Karriere. Schliesslich liefen die vier schnellen Sprinterinnen im Final nochmals bis auf drei Hundertstel an den Schweizer Rekord heran und belegten Rang vier.
Die Enttäuschung war grösser als die Freude über das Top-Resultat – bei den Läuferinnen und bei den Medien. Im Nachhinein bedauert dies die erste Leichtathletin, die das Rheintal an Olympischen Spielen vertrat:
Wir hätten den vierten Rang feiern sollen, statt der verpassten Bronzemedaille nachzutrauern. Denn es war grossartig, was wir geleistet haben.
Vom STV Lüchingen ins Scheinwerferlicht
Anschliessend empfing das Rheintal die Athletin auf dem Altstätter Rathausplatz. Beim «Swiss Sports Awards», für den die Staffel nominiert wurde, tauchte Riccarda Dietsche in eine für sie fremde Welt ein. Zusammen mit der in Altstätten lebenden Modedesignerin Annette Kohn entwarf die Leichtathletin einen Jumpsuit, den sie im Scheinwerferlicht tragen durfte und traf auf Sportgrössen wie Marco Odermatt oder Yann Sommer.
Die Schweizer 4×100-Meter-Staffel plant in Olympiaden. Da es für einmal nur drei anstelle der üblichen vier Jahre dauerte, sah dies auch Riccarda Dietsche als realistisches Ziel. Sie liebte es, aus dem Startblock zu gehen, fühlte sich auf der Laufbahn daheim. Für sie gab es nichts anderes, seit sie ein kleines Mädchen war. Damals turnte sie in der Jugi des STV Lüchingen, wechselte später zum KTV Altstät-ten. Zu Beginn trat sie im Siebenkampf an, wobei sich der 200-Meter-Lauf als ihre stärkste Disziplin herausstellte. Daraus entwickelte sich schliesslich ihre Spezialisierung auf den Sprint.
Fokus lag nie nur auf dem Sport
Von den Schweizer Sprinterinnen von Tokio war Riccarda Dietsche die Einzige, die ihren Fokus nicht ausschliesslich auf den Sport richtete. Zuerst studierte sie an der Pädagogischen Hochschule in Rorschach. Als erste Studentin überhaupt beantragte sie dort den Status Spitzensport, der bewilligt wurde. Später arbeitete sie als Lehrerin. Immer in einem 50-Prozent-Pensum. Dies aus finanziellen Gründen und um nicht 24 Stunden am Tag an den Sport zu denken. Der Beruf war ihr Ausgleich und zeigte ihr, dass sie auch bei der Arbeit gebraucht wurde:
Ich war jeweils für einige Stunden wieder komplett woanders und konnte vom Sport abschalten.
Im Sprint feierte Riccarda Dietsche beachtliche Erfolge. 2017 gewann sie an der U23-Europameisterschaft mit der Staffel Bronze. Ein Jahr danach belegte sie über 100 Meter Rang fünf an der Schweizer Meisterschaft, 2021 gewann sie bei den Schweizer Hallenmeisterschaften mit persönlicher Bestzeit (7,29 s) Bronze im 60-Meter-Lauf und qualifizierte sich für die Hallen-EM. Im gleichen Jahr wurde sie an der Schweizer Meisterschaft Vierte.
Ohne zuvor auf Elite-Niveau an Europa- oder Weltmeisterschaften gestartet zu sein, reis-te sie an die Olympischen Spie-le nach Japan. Am 9. Juli 2022 lief sie mit 11,32 Sekunden ih-ren schnellsten 100-Meter-Lauf und ist damit noch heute die neuntschnellste Schweizerin aller Zeiten. Zu den Top Ten gehört sie mit 7,29 Sekunden auch über 60 Meter in der Halle.
Olympia stand bis zuletzt im Fokus
Lange war auch Olympia in Paris von diesem Sommer ein Thema. Parallel dazu entschied sich Riccarda Dietsche letzten Herbst, dass 2024 ihre Abschlusssaison wird – ein für sie wichtiger Prozess. Ihre Hallensaison war gut. Sie lief 7,36 Sekunden über 60 Meter, womit sie zu den besten acht Schweizerinnen gehörte. Sechs durften an die Olympischen Spiele. Für die Rheintalerin war es realistisch, dabei zu sein. Doch dann plagte sie vor der Sommersaison eine Angina. «Bei uns Sprinterinnen sind ein oder zwei Leistungsprozent Welten. Wenn ich, gerade auch unter Stress, Höchstleistungen zeigen sollte, war das Nervensystem nicht mehr dazu bereit. Deshalb wusste ich in diesem Moment, dass es nicht für Olympia reicht», erinnert sie sich an diese schwierige Zeit. Dass sich Dietsche zum Rücktritt durchrang, hat viel mit ihrer Gesundheit zu tun. Nach 2021 war sie immer wieder krank:
Es war frustrierend, dass ich dadurch nicht mehr an meine optimale Leistungsfähigkeit herankam, obwohl viele Teile zusammenstimmten.
Dass die Probleme im Zusammenhang mit Corona stehen könnten, kann sie nicht bestätigen: «Dadurch, dass aber viele Athletinnen und Athleten nach Corona mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten, kann dies durchaus einen Zusammenhang haben.» Jammern will Dietsche nicht: «Im Alltag geht es mir gut.»
Bei den Trainingslagern war sie gern dabei
Riccarda Dietsches Schlusspunkt war die Schweizer Meisterschaft von Ende Juni in Winterthur. Nach dem Wettkampf packte sie ihre Tasche, verliess den Wettkampfplatz und kehrte bis heute nicht zurück. «Ich wusste, dass es einen klaren Schnitt geben wird», sagt die 28-Jährige. «Ich war während 18 Jahren Leichtathletin. Es war eine coole Zeit. Doch jetzt freue ich mich, andere Dinge machen zu können.» Zum Beispiel auszuwählen, in welcher Jahreszeit sie in die Ferien reisen möchte, sich auch einmal polysportiv betätigen – Squash spielen, Velo fahren oder wandern.
Noch denkt sie ab und an ans Training. Zum Beispiel Ende November, wenn die Athletinnen in die Trainingslager verreisen: «Diese mochte ich sehr gerne. Vor allem in Südafrika. Da wäre ich noch heute gern dabei.» In den Trainingslagern konnte die Rheintalerin viel profitieren: «Vor allem von Trainer Laurent Meuwly, von Léa Sprunger und weiteren Sportgrössen aus aller Welt. Sie brachten mich als Athletin weiter.»
Durch die Konkurrenz gewachsen
Riccarda Dietsche war in einer Phase der Schweizer Leichtathletik stark, in der es enorm viele gute Sprinterinnen gab. Natürlich konnte dies in Momenten, als sie nicht für Grossanlässe berücksichtigt wurde, obwohl sie die Limite unterboten hatte, zu Frust führen: «Besonders bei Entscheiden, bei denen ich spürte, dass man auch zu meinen Gunsten hätte entscheiden können. Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass der Schweizer Sprint ohne eine solche Konkurrenz nie dort wäre, wo er heute ist. Wir sind durch den Konkurrenzkampf gewachsen.»
Eine zweite Olympiateilnahme «wäre schön gewesen». Doch Riccarda Dietsche schaffte es nicht mehr. Nichtsdestotrotz waren die Olympischen Spiele ein wichtiger Prozess beim Abschiednehmen. Riccarda Dietsche tat dies ohne Wehmut. Denn durch Paris sei ihr erst bewusst geworden, was sie geschafft habe: «Viele Sportlerinnen und Sportler träumen den Olympiatraum. Bei mir ist er Realität geworden. Ich spüre Dankbarkeit, Freude und Stolz über mein Erreichtes.» Im Rückblick hätte die Lüchingerin einiges anders gemacht:
Heute wäre ich etwas mutiger, würde etwas mehr auf den Sport setzen und mehr Selbstvertrauen zeigen – im Wissen, dass ich gut bin.
Mit verschiedenen Menschen erfolgreich im Team zusammenarbeiten, die Effizienz, ohne die sie nicht immer alles unter einen Hut gebracht hätte, die Strukturiertheit und wie man einem Ziel alles unterordnet, sind Dinge, die sie in ihre Zeit nach dem Sport mitnehmen kann.
Im Moment braucht die ehemalige Spitzensportlerin Abstand von ihrer grossen Leidenschaft. Vielleicht, so sagt sie, könne sie dem Sport irgendwann etwas zurückgeben. Sie denkt dabei an den mentalen Bereich.
Jetzt muss Riccarda Dietsche lernen, dass die Sportkarriere hinter ihr liegt und es gut ist, so wie es ist. «Zudem brauche ich Zeit, um mich neu zu finden, mich neu kennenzulernen, zu erfahren, wer ich ohne Leistungssport bin und ob es in meinem Leben noch einmal eine so grosse Passion gibt.»
Ihr Arbeitspensum hat die Primarlehrerin auf 80 Prozent aufgestockt. Ihre Tage sind auch ohne Sport ausgefüllt. Dies mit einem Unterschied: Heute hat sie auch Zeit, am Abend einfach einmal ein Buch in die Hand zu nehmen und zu lesen.