29.07.2019

Schau mir in die Augen

Oberhalb von St. Margrethen kann man spezielle Räder bestaunen. Sie sind betörend und abschreckend zugleich.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Minh-ao-ao-ao-ao, Minh-ao-ao-ao, ertönt es von Weitem. Das schrille Schreien wiederholt sich von Zeit zu Zeit. Je näher ich komme, desto lauter wird es. Minh-ao-ao, Minh-ao-ao. Gespannt schreite ich um das Bauernhaus. Das Gejammer hat aufgehört, dafür ist nun ein rasselndes Geräusch zu hören. Nur noch wenige Schritte und ich stehe vor dem knapp zwei Meter grossen Ramses, der im Kreis tanzt und seine Federn schüttelt. Minh-ao-ao, Minh-ao-ao schallt es laut, und im selben Augenblick richtet Ramses seine schillernden Oberschwanzdeckfedern auf und schlägt sein Riesenrad. Jetzt macht Ramses dem Weibchen Filomena schöne Augen – mehr als 100 strahlen ihr von seinem Federkleid entgegen. Die Rede ist nicht vom mächtigsten Pharao des Alten Ägyptens und auch nicht vom Herrscher der Unterwelt, sondern von Jasmin und David Strässles Pfauenhähnen. Seit 2016 leben sie frei auf dem Hof oberhalb von St. Margrethen. Ihre Räder lassen sich nicht drehen, dafür gehören sie zu den schönsten im Lande. Während manche Betrachter von ihrem Antlitz fasziniert sind, kriegen andere von den vielen Augen Angst.Jeden Tag eine ShowJasmin und David Strässle sind seit 2016 Besitzer zweier Pfauenhähne. Sie sind von den Tieren nicht nur wegen ihres glamourösen Aussehens, sondern auch von ihrer Urtümlichkeit fasziniert. «Katzen jagen Mäuse, Hunde treiben Schafe, Schafe pflegen die Weide und Pfaue, ja Pfaue sind in erster Linie schön anzusehen», sagt Jasmin Strässle. Die Tiere seien sehr pflegeleicht und ortsbezogen. «Wir können sie frei halten, sie fliegen uns nicht davon.» Früher, als sie noch kein Weibchen hatten, kam es vor, dass die Männchen Hennen im Nachbardorf suchten und verschwanden. Die tag- und dämmerungsaktiven Tiere lieben es, sich stundenlang zu putzen und zu pflegen. «Alles dreht sich bei den Pfauen um die Schönheit», sagt Jasmin Strässle, «jede einzelne Feder wird geputzt.» Eitel sind nicht nur die Männchen. Aber während die Hennen bräunliche Federn haben, besitzen Hähne prachtvolle Schmuckfedern am Schwanz, die je nach Lichteinfall in blau, grün oder goldig schillern und grosse irisierende Augenflecken aufweisen. «Der schillernde Effekt und die starke Leuchtkraft des Gefieders entstehen nicht durch Farbpigmente, sondern durch eine dünne Schicht von Interferenzfarbe», sagt die 41-jährige Bäuerin. Dabei handelt es sich um weisses Licht, das durch optische Reflexion farbig erscheint und in winzigen Luftkammern in den Federn eingeschlossen ist. Hätte der Pfau nicht diese Luftkammern, erschiene sein Gefieder dunkelgrau. Die Tiere haben eine enorme Präsenz. Sie nicht zu beachten, sei fast unmöglich. Falls ihnen zu we­-nig Aufmerksamkeit geschenkt wird, machen sie sich bemerkbar oder betrachten sich selbst in spiegelnden Objekten. «Fi­lomena kann lange vor dem Auto sitzen und ihr Spiegelbild darin betrachten», sagt Jasmin Strässle.Die Tiere seien sensibel und lernfähig. Sie laufen uns hinterher und suchen unsere Nähe, was für Vögel sehr speziell sei. «Ich liebe die Tiere, weil sie Abwechslung in unseren Alltag bringen, uns fast täglich eine Show bieten und ein echter Blickfang sind», sagt David Strässle und seine Frau ergänzt: «Ausserdem gefallen ihre Federn, die einmal im Jahr ausfallen und nachwachsen, nicht nur mir, sondern vielen Verwandten und Freunden.»Könige unter dem ZiergeflügelVor 4000 Jahren kam der Pfau in den Mittelmeerraum und verbreitete sich als Haustier auf der ganzen Welt. Während er hier kaum Fressfeinde kennt, ist es in seiner Heimat anders. Im indischen Dschungel lauern dem bis 6,5 kg schweren Vogel Raubkatzen auf. Wird er nicht gefressen, kann das Tier 30 Jahre alt werden. Der Pfau wird von Einheimischen geschätzt, da er junge Kobras frisst und mit seinem schrillen Schrei vor Tigern und Unwettern warnt.Gefährte der Götter und Könige«In den asiatischen Mythen kommt dem Pfau eine besondere Stellung zu», sagt Jasmin Strässle, «er gilt als Gefährte der Götter und Könige, ist in die religiösen Vorstellungen verwoben und dem Tier selbst und seinen Federn werden magische Kräfte zugeschrieben.» Auch im frühen Christentum war der Pfau Symbol des Himmels, der Seligkeit und des Glücks. Im Laufe der Zeit wandelte sich seine Bedeutung, er wurde zum Symbol für Eitelkeit. Im Volksmund hiess es, die Federn eines Pfaus im Haus aufzubewahren bringe Unglück.Davon können Jasmin und David Strässle freilich nichts berichten – ganz im Gegenteil. Ihr Leben wurde durch die Anschaffung der Tiere bereichert. «Wir würden Ramses, Osiris und Filomena nie mehr hergeben.»

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