07.03.2021

Rollentausch im Pandemie-Team

Altersheime haben ein stressiges und psychisch anstrengendes Jahr hinter sich. Der Heimleiter des Hauses Viva in Altstätten schildert, wie es war.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 03.11.2022
Der 61-jährige Urs Trinkler ist Heimleiter im Haus Viva seit dem 14. September 2009. Er ist ein Quereinsteiger, vorher war er im Vertrieb tätig. Der gebürtige Thusner, der in Appenzell wohnt, gibt im Sommer die Heimleitung ab, der Nachfolger oder die Nachfolgerin wird Ende März vom Verwaltungsrat gewählt. Urs Trinkler ist verheiratet, er hat drei inzwischen erwachsene Kinder, die seine Frau in die Ehe brachte.Erste Welle«Als Mitte März 2020 der Lockdown kam, herrschte Unsicherheit, überall. Bei uns, im Kanton und in der ganzen Schweiz – es war ein Herantasten. Wir waren den Umgang mit Masken nicht gewohnt, die Distanzmassnahmen begriffen viele Bewohner nicht», sagt der Heimleiter. Noch im März bildete das Haus Viva ein Pandemie-Team. Dieses Gremium traf sich zeitweise täglich. Die Leitung obliegt Patrizia Hasler, Pflegedienstleiterin. Alle Bereiche des Heims sind involviert: Thomas Krüsi (Infrastruktur), Peter Waldner (Gastronomie), Stephanie Baertsch (Hauswirtschaft), Anne Paul (Qualitätsverantwortliche Pflege und Betreuung) sowie Urs Trinkler. «Interessant ist, dass in der ersten Phase vor allem die Pflege den vorsichtigen Part einnahm, während andere – auch ich – eher lockerer mit der Pandemie umgingen. Später war es umgekehrt.» Das Team habe sich bewährt: «Wenn ich zurückblicke, kann ich sagen: ‹Wir haben es nicht schlecht gemacht. Die Ausgeglichenheit der Menschen aus verschiedenen Bereichen war entscheidend dafür. Zudem haben die Mitarbeiter die Massnahmen hervorragend umgesetzt. Aber wir hatten auch Glück.›» Zu Beginn war das fehlende Material ein Problem: «Wir hätten Masken gebraucht, Schürzen, Handschuhe, Desinfektionsmittel – und es war am Anfang unmöglich, Material zu bekommen.» Aber dem Heim gelang es, die erste Welle ohne einen Corona-Fall zu überstehen: «Gott sei Dank war das so, wenn es kritisch geworden wäre, hätten wir zu wenig Material gehabt.» Das Restaurant musste geschlossen werden, im Speisesaal der Zwei-Meter-Abstand gewährleistet werden: «Gerade wenn jemand schlecht hört, sind so kaum mehr Gespräche möglich. Früher war während des Mittagessens ein Stimmengewirr, jetzt ist es praktisch still.» Die Massnahmen verursachten viel Mehrarbeit. «Als das Besuchsverbot kam, bauten wir sofort eine Besucherbox, wenig später stellten wir zwei Zelte mit Plexiglasscheiben in den Garten.» Die Besucher mussten sich anmelden, sie aneinander vorbei zu bringen, sei administrativ sehr herausfordernd gewesen. Die Mitarbeiter mussten die Bewohner bei Besuchen 1:1 betreuen und die Einhaltung der Massnahmen überwachen. «Weil es einige Bereiche nicht mehr brauchte, andere aber umso mehr, änderten wir zum Teil die Arbeitseinsätze, auch hier haben die Mitarbeiter sehr gut mitgezogen», lobt Trinkler. «Schön war, dass wir sehr viel Solidarität spürten: Zum Beispiel haben die Fäaschtbänkler auf ihre Anfrage gratis gespielt. Oder Magenbrot Rohner brachte zwei Riesenkisten Magenbrot vorbei, auch Angehörige organisierten musikalische Auftritte.» Allerdings hätten die Bewohnerinnen und Bewohner in der ersten Welle nicht richtig verstanden, was abgeht: «Das erschwerte unsere Arbeit nochmals.»ZwischenzeitDas Restaurant wurde im Sommer geöffnet, sonst blieben die Rahmenbedingungen weitgehend bestehen: «Aber bis zum Ausbruch der zweiten Welle war es relativ ruhig.» Auch externe Dienstleister waren wieder zugelassen: Massage, Podologie, Coiffeur. Das war für viele Bewohnerinnen eine Wohltat, sie konnten sich wieder frisieren lassen.Zweite WelleZu Beginn der Pandemie habe Verunsicherung geherrscht, das Motto war: «Alles – nur bitte keinen Fall. Als wir im Oktober die ersten positiven Fälle von Mitarbeitern und Bewohnern hatten, wussten wir dagegen, wie damit umzugehen ist.» Zusätzlich zu den Distanzmassnahmen wurden im Speisesaal Plexiglasscheiben aufgestellt. Aber die Belastung fürs Personal wurde nochmals grösser. Quarantänen führten dazu, dass Mitarbeiter ausfielen – viel mehr als in der ersten Welle. Richtig schlimm sei der Dezember gewesen: «Am 13. Dezember hatten wir einen Corona-Ausbruch bei den Bewohnern – ausgerechnet in der Adventszeit und über Weihnachten. Bis am 4. Januar mussten wir das Haus komplett schliessen», schildert Urs Trinkler. «Zu unserem Glück – ich sage bewusst Glück, obschon sicher auch Können dabei war – hatten wir nie mehr als acht Fälle gleichzeitig, die wir im Zimmer isolieren mussten.» Insgesamt waren zwischen Oktober und Dezember 15 Bewohner und ähnlich viele Mitarbeiter an Corona infiziert.Drei Menschen, die im Haus Viva wohnten, sind im Zusammenhang mit Corona gestorben. Erschwerend kam dazu, dass im Dezember und Januar weit überdurchschnittlich viele Bewohner starben, die sich nicht mit Corona infiziert hatten. Das Haus Viva führte eine lange Warteliste, weshalb im Gegensatz zu anderen Heimen alle 100 Betten belegt sind: «Aber wir hatten auf einen Schlag 15 Wechsel.» Während Menschen einzogen, war die Bewältigung der Trauer eine weitere, auch psychische Anstrengung. «Das war eine ganz, ganz schwere Zeit, in der auch Konflikte entstanden sind – unter Bewohnern und vereinzelt auch mit Angehörigen», sagt Trinkler, «einige Mitarbeiter liefen in Richtung eines Burn-outs.» Anstrengend war auch, dass einige wenige Angehörige die Massnahmen nicht verstanden hätten. «Da hörte ich auch mal: ‹Herr Trinkler, sie stecken meine Mutter ins Gefängnis›.»Die Überstunden wuchsen ins Unermessliche, obschon das Haus Viva externe Unterstützung erhielt: «Wir hatten jeweils zwei, drei Zivilschützer während den schwersten vier Wochen, und vom kantonalen Pool erhielten wir Unterstützung von zwei diplomierten Pflegerinnen.» Das tönt nach einem Tropfen auf den heissen Stein, fügte sich aber gemäss Trinkler wie ein Mosaik ins Gefüge: «Diese Hilfe haben wir absolut gebraucht.» Überstunden im buchhalterischen Wert von über 70 000 Franken sammelten sich dennoch an – praktisch waren es sogar mehr, weil erst Überzeit von 20 Stunden an in die Buchhaltung einfliesst: «60, 70 Überstunden waren fast schon normal, einer landete gar bei 200.»Die Bewohnerinnen und Bewohner mussten einzeln im Zimmer bleiben, auch zum Essen. Um ihnen die Rückkehr in die Gemeinschaft zu ermöglichen, wurden sie im Januar auf Corona getestet: Alle mit negativem, also erfreulichem Ergebnis. «Seither hatten wir keine Infektion mehr, die Ruhe ist zurückgekehrt – abgesehen von den vielen Neueintritten», sagt Trinkler.Auf der Demenzstation, die strikt abgetrennt wurde, hatte das Heim keinen positiven Fall: «Das wäre verheerend, denn Demente können die Distanzmassnahmen nicht einhalten und die Masken nicht tragen.»AusblickDie Bewohnerinnen und Bewohner, die im Haus Viva durchschnittlich 88-jährig sind, haben in der zweiten Welle die Massnahmen angenommen: «Ich staune, wie sie sich an die Weisungen halten», lobt Trinkler. Im Vergleich mit anderen Ins­titutionen wurde das Haus Viva nicht schwer getroffen.Die finanzielle Lage des Hauses Viva sei auch im Jahr 2020 gut gewesen: «Aber wir hatten auch schon bessere Jahre.» Durch den Ausfall der Gastronomie – das Haus Viva hatte im Restaurant viele externe Besucher – fehlten 170'000 Franken. Für die zusätzlichen Sachkosten (Masken, Desinfektionsmittel und -ständer, Schürzen, Plexiglas, Besucherboxen) reichten 100'000 Fr. nicht. Das Personal erhielt einen Corona-Bonus, der total 50'000 Fr. kostete. Dazu kommen die vielen Überstunden, die abgearbeitet werden müssten. «Finanziell wird auch 2021 ein schwieriges Jahr», sagt Trinkler.Der im Sommer scheidende Heimleiter hofft auf möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität. Ende Januar erhielten alle Impfwilligen die erste Dosis der Corona-Schutzimpfung. 80 Prozent der Bewohner und 35 Prozent des Personals liessen sich impfen: «Am 9. März bekommen wir die zweite Spritze.» Trinkler glaubt nicht, dass es dadurch keine Coronafälle mehr gibt: «Aber nach allem, was ich über die Impfung höre, sollten die Symptome nicht mehr so schwer sein, wenn ein Grossteil der Bewohner geimpft ist.»  

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