11.08.2021

Ribel-Chips werden zur Erfolgsgeschichte

Glutenfreie Produktion: In einer Woche wird die modernste Speisemaismühle der Schweiz in St.Margrethen eingeweiht.

Von Christoph Zweili
aktualisiert am 03.11.2022
Die riesigen Silotürme im Industriequartier auf der Höhe des Bahnhofs St.Margrethen sind nicht zu übersehen: Acht Milliarden Getreidekörner können hier pro Stunde in den 14000 Tonnen Beton und 400 Tonnen Armierungsstahl eingelagert werden. Sammelstelle und Logistikzentrum für Getreide – das ist das Geschäft der Lütolf AG seit den 1960er-Jahren. Hier lagern unter anderem auch jährlich 900 Tonnen Mais, eine beachtliche Zahl.Die auf Mais spezialisierte Chipsfabrik, in einem Nebengebäude am Fusse des Betonklotzes untergebracht, mutet da geradezu winzig an: Doch der Schein trügt – mit den Chips schreiben die Lütolfs, bisher ohne Erfahrung in Produktion und Vermarktung von Maisprodukten, ihre eigene Erfolgsgeschichte des einst verschmähten Ribelmaises. Der Erfolg stellt sich auf dem Fusse ein: Aus dem vermeintlich verstaubten Nahrungsmittel Ribelmais ist nicht nur ein In-Produkt geworden, es ist auch längst bei der jungen Generation hip.Der neue Geschäftsbereich macht inzwischen bereits 15 bis 20 Prozent des Umsatzes aus. «Weil dem Mais der natürliche Klebstoff, das Gluten, fehlt, haben wir vor dem Produktionsstart zuerst Versuche mit mexikanischem Know-how gemacht und Erfahrungen gesammelt», sagt Seniorchef Ernst Lütolf. 2018 wurde in Kalifornien eine Chips-Maschine bestellt und ein Jahr später nach Europa verschifft.Auch die Westschweiz kommt auf den Ribelmais-GeschmackEnde Juni 2019 kam die Maschine in St.Margrethen an, wenig später begann die Produktion: Inzwischen werden 550 Kilogramm Ribelmais pro Tag verarbeitet – verpackt in rund 4000 Beutel. Mehrere Grossverteiler nahmen die Chips in ihr Sortiment auf. Inzwischen sind 25 Tonnen Chips verkauft, glutenfrei und vegan – bis Ende Jahr rechnet Christian Lütolf, Geschäftsführer des Start-ups, der Lütolf Spezialitäten AG, mit rund 40 produzierten Tonnen. Die Ribelmais-Chips gibt es heute nicht nur bei Migros, Volg oder in der Landi, sondern auch in vielen Hof-, Dorf- und Gourmetläden. Mittlerweile kommen auch die Westschweizer auf den Ribelmais-Geschmack. Gleichzeitig begann das Unternehmen auch Vorarlberger Riebelmais als Chips zu verarbeiten und nach Österreich auszuliefern. Darüber hinaus arbeitet das Start-up aus St.Margrethen auch in Projekten mit der ETH Zürich und dem Bundesamt für Landwirtschaft an neuen Produkten.Für Hans Oppliger könnte es nicht besser laufen: «Der Erfolg der Ribelmais-Chips verleiht auch uns Flügel», sagt der Geschäftsführer des Vereins Rheintaler Ribelmais. Mit der Vereinsgründung 1998 und der Anerkennung als zweite Appellation d’origine protegée (AOP) der Schweiz im Jahr 2000 wurde der Anbau der alten, einheimischen Landsorte zwischen Bodensee und Zizers (GR) gefördert und neu belebt. «Was als Hobby zum Erhalt der genetischen Vielfalt des Ribelmaises begann und von vielen Rheintalern belächelt wurde, ist mittlerweile eine Ribelmaisfamilie, ein Aushängeschild für das Tal und den Kanton St.Gallen geworden. Und es ist mit rund drei Millionen Franken eigenständig am Markt erwirtschafteten Mitteln einkommensrelevant für das Tal», sagt Oppliger. Ribelmais-Chips, Ribelmais-Bier und mit Ribelmais gefüttertes Geflügel: Benedikt Würth, St.Galler Ständerat und Präsident der Schweizerischen Vereinigung AOP-IGP, gratuliert den visionären Pionieren. Sowohl Oppliger wie auch Lütolf, heute Vizepräsident des Winzig-Vereins mit 13 Mitgliedern, gehören dazu. Der einzigen ursprungsgeschützten Getreidesorte der Schweiz attestiert Würth einen Multiplikator-Effekt, ähnlich wie edle Weine oder erlesener Käse: «Ribelmais ist ein Türöffner für Innovationen.» Laut Würth beträgt die jährliche AOP-Produktion rund 35 Tonnen: «Sie erzielt beim Endkonsumenten einen Umsatz von 150000 Franken.»Das war nicht immer so. In Quellen und Urkunden tauchte der Mais zu Speisezwecken ab Mitte des 17. Jahrhunderts regelmässig auf: Der ursprünglich aus Amerika stammende Mais war über die Türkei ins Rheintal gelangt. Im feuchtwarmen Klima des Rheintals haben es andere Getreidearten wegen starken Pilzkrankheitsbefalls schwer: Daher wurde im Unter- und Oberrheintal, in Werdenberg und Sargans der wärmeliebende Rheintaler Ribel oder Türggenribel zum Grundnahrungsmittel – zum definierten AOP-Gebiet gehören auch sieben Bündner Gemeinden und das Fürstentum Liechtenstein. Im Dreiländereck wird der Ribel verschieden bezeichnet – in Liechtenstein heisst er Rebel, in Vorarlberg Riebel.Später kam der Ribelmais als Arme-Leute-Essen in Verruf. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde er nur noch für die Selbstversorgung angebaut, die Anbaufläche nahm kontinuierlich ab. Mitte der 1990er-Jahre war der Ribelmais akut vom Aussterben bedroht: Bis der Verein Rheintaler Ribelmais gegründet wurde. Inzwischen ist der Anbau im Rheintal wieder von vier auf 90 Hektaren angewachsen und selbst Gourmetköche entdeckten den Klassiker neu.Neuland für die Familie LütolfIm Juni waren die Regale der Grossverteiler mit Rheintaler Ribelmais allerdings plötzlich leer – nicht weil es zu wenig Mais gab, im Einzugsgebiet fehlten schlicht die für die AOP-Auszeichnung vorgeschriebenen Mühlen. Die Lütolf Spezialitäten AG sprang in die Bresche. Für 2,5 Millionen Franken wagte sich Ernst Lütolf – beflügelt durch nächtliche Visionen – nach dem Siloprojekt und der Chips-Fabrik an den Bau einer fünfstöckigen glutenfreien Speisemaismühle mit Bühler-Uzwil-Technologie, weil der AOP-Ribelmais nur im Rheintal gemahlen werden darf.Die 27 Meter hohe hauseigene glutenfreie Maismühle uniCorn wurde im Frühling ennet dem Bahnhof St.Margrethen in Betrieb genommen. In einer Woche wird die Anlage eingeweiht, die strikte nicht mit Weizen-Spurenelementen in Kontakt treten darf, um als glutenfrei gelten zu können. Hier werden hauptsächlich edle Polenta-Variationen produziert, aber auch Rohstoffe für Waffeln, Pasta oder Bier. «Wir sind Quereinsteiger, aber die Einzigen, die das glutenfrei in der Schweiz hinbringen», sagt Lütolf.In der Mühle werden die Maiskörner mit neuster Technologie gereinigt – jedes Korn wird für die optische Sortierung einzeln fotografiert, die schlechten Körner werden in zusätzlichen Verarbeitungsschritten mit Metalldetektoren und einem Separator abgeführt. Die verbleibenden Maiskörner werden auf vier Walzenstühlen gemahlen, bis der gewünschte Mahlgrad für Polenta (fein) und Bramata (grob) erreicht ist. Über fünf Stockwerke hinweg wird die Schwerkraft für die Verarbeitung genutzt, ein komplexes Röhrenwerk pumpt die Maispartikel tentakelgleich mit pneumatischer Druckluft durch das System und wieder in die Höhe.Im Keller aber lagert ein Geheimnis: Der sogenannte Maisdunst stapelt sich in grossen weissen Säcken. Noch werden die meisten nicht genutzt, bald aber soll mit dem Mehl wieder das «Türgge Brot» gebacken werden. Man darf gespannt sein, welche Geschichten der Ribelmais noch schreibt.

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