08.12.2021

Rheintaler vor Gericht: Im Rausch schlitzte er ihren Hals auf

Ein junger Rheintaler lässt das Kreisgericht darüber im Dunkeln, weshalb er eine Frau lebensbedrohlich verletze.

Von Seraina Hess
aktualisiert am 02.11.2022
Er könnte auch auf dem Weg in einen Kinosaal sein. Mit einer Colaflasche in der Hand schlurft er gemächlich in den Raum und sucht seinen Platz, als hielte er Ausschau nach Rang- und Sitznummer. Nur die beiden Polizisten, die ihn begleiten, und die Fesseln, die seine Fussgelenke umschlingen, zerstören die Illusion. Es ist ein Gerichtssaal, den der junge Mann an diesem Mittwochmorgen betritt, und es wartet kein Film auf ihn – vielmehr eine Verhandlung über eine Straftat, die durchaus einem Blockbuster hätte entspringen können. Der Angeklagte, noch keine 20 Jahre alt, hat sich vor dem Kreisgericht zu verantworten, weil er im Sommer 2020 nach einer alkoholgeschwängerten Nacht und ein bis zwei Zügen eines Joints in der Wohnung von Freunden seine Kollegin auf dem Sofa von hinten umarmte. Nicht als Liebesbekundung: Er schnitt ihr mit einem Küchenmesser in den Hals. Die junge Frau wehrte sich in ihrer Todesangst, drückte Hand und Messer von sich, sodass er schliesslich von ihr abliess. Wunde verfehlte knapp die HalsschlagaderDie 7,5 Zentimeter lange Wunde an der rechten Halsvorderseite verfehlte zwar die Halsschlagader, war gemäss Anklageschrift aber «potenziell lebensgefährlich durch die Nähe zu grossen arteriellen und venösen Blutgefässen». Zusätzlich erlitt die Frau einen fünf Zentimeter langen Schnitt am Daumen, den sie sich zuzog, als sie sich wehrte. Sie wurde schliesslich von der Rega abgeholt. Nicht, weil der Angeklagte diese gerufen hätte; er verliess die Wohnung fluchtartig, stellte sich aber kurz darauf der Polizei.Die Ausführungen der Staatsanwaltschaft bleiben an diesem Morgen die einzigen über den verhängnisvollen Sachverhalt. Der Angeklagte verzichtet konsequent auf Aussagen vor dem Kreisgericht, selbst nach mehreren Hinweisen darauf, dass ihm diese eher zugutekämen als schadeten. Eine Frage beantwortet er dem vorsitzenden Richter schliesslich doch – allerdings mit Sätzen, die von seinem Psychotherapeuten stammen: «Ich bin halt eine introvertierte Person, die über Jahre vieles in sich hineingefressen hat. Durch den Alkoholkonsum kam vermutlich alles wieder hoch.»Zwei Jahre im Frauenhaus und ein früher Verlust«Alles» bezieht sich im Fall des Angeklagten auf viele schwierige Lebensjahre, von denen er dem Kreisgericht im Gegensatz zum Tatvorgang bereitwillig berichtet. Geprägt habe ihn häusliche Gewalt, unter der seine Mutter litt, bis er fünf war, sowie die Trennung der Eltern, auf die zwei Jahre im Frauenhaus St. Gallen folgten. Das Verhältnis zu beiden Elternteilen gestaltete sich in den Folgejahren schwierig. Als Teenager fand er schliesslich wieder einen Draht zum Vater, der nur wenige Monate später dem Krebs erlag.Bis zu sechs Liter Bier nach FeierabendTrotz privater Schicksalsschläge lief es beruflich gut. Er trat eine Lehrstelle in einem Handwerksbetrieb an, die ihm zu Beginn gefiel. Auch mit der wöchentlichen Feierabendbier-Tradition freundete er sich rasch an, und aus ein, zwei Bier wurden an manchen Freitagen bald zehn bis zwölf, mal Spezli-, mal Halbliterflaschen. Oft war der Angeklagte der letzte, der noch auf der Festbank sass, manchmal ging er danach direkt in den Ausgang, um weiterzutrinken. Gleichzeitig wurde es im Lehrbetrieb immer schwieriger. Der Seniorchef habe die Lernenden drangsaliert, beschimpft, manchmal Gegenstände nach ihnen geworfen. Schliesslich kündigte der junge Mann, fand wegen ungenügender Noten und vieler Absenzen aber keinen neuen Lehrbetrieb. «Zu dieser Zeit machte mich der Alkohol glücklich», sagt der Angeklagte, dem nach der Tat eine Alkoholsucht diagnostiziert wurde. Drogen hätten ihm aber nie zugesagt, abgesehen von etwas Gras.Inzwischen befindet er sich seit mehreren Monaten in einem stationären Rehabilitationszentrum und hat seit eineinhalb Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Über die Institution sagt er: «Ich lerne hier, über meine Gefühle zu sprechen, mich besser kennenzulernen und herauszufinden, was ich will und was ich brauche.» Inzwischen habe er sogar ein Praktikum und eine Lehrstelle in einem nahegelegenen Betrieb in Aussicht gestellt bekommen, auf die er sich an den Wochenenden vorbereite.Forderung: Sieben Jahre hinter GitterDas Kreisgericht zeigt sich wenig erfreut darüber, dass der Angeklagte zwar über sich selbst spricht, aber über die Tat schweigt. «Mir kommt es so vor, als hätten Sie mal eben einer Freundin in den Hals geschnitten und möchten nun, nachdem sie die Reha für gut befunden haben, am liebsten straffrei bleiben», sagte eine der anwesenden Richterinnen und setzt zu einem letzten Versuch an: «Wie wollen Sie das Gericht davon überzeugen, anstelle einer Freiheitsstrafe eine therapeutische Massnahme anzuordnen?» Wie die meisten anderen bleibt auch diese Frage unbeantwortet.Die Staatsanwaltschaft beantragt dem Kreisgericht, den Angeklagten der versuchten vorsätzlichen Tötung sowie der mehrfachen Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes schuldig zu sprechen. Er sei zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 228 Tagen zu verurteilen. Zahlen soll er ausserdem 200 Franken Busse sowie die Verfahrenskosten. Weiter fordert der Staatsanwalt eine stationäre Suchttherapie.Die junge Frau will über 10 000 Franken Damit ist es noch nicht genug: Das Opfer macht eine Zivilforderung geltend. Dazu gehört etwa Schadenersatz für blutüberströmte Kleidung, Fahrtkosten ins Spital, Stunden beim Therapeuten oder versäumte Arbeitstage des Vaters, der sie zu den Arztterminen begleitete. Alles in allem über 1500 Franken. Der Angeklagte könnte aber noch weiter zur Kasse gebeten werden: Die Zivilklägerin fordert zusätzlich eine Genugtuung von 10 000 Franken. Der Verteidiger geht im Wesentlichen auf die Anträge ein. Er fordert neben der Reduktion der Genugtuungssumme aber eine deutlich kürzere Freiheitsstrafe für seinen Mandanten: Maximal vier Jahre soll er hinter Gitter – dies, weil er keine bleibenden Schäden verursacht und er die Tat im Rausch – mit 1,2 Promille – begangen habe. Zu berücksichtigen sei auch das Alter, die damit verbundene Unreife sowie die Reue. Das Schlusswort gehört dem Angeklagten, der sich erstmals in über drei Stunden der jungen Frau hinter sich zuwendet, der er vor eineinhalb Jahren das Messer an die Kehle gehalten hat. «Ich will mich bei dir entschuldigen und kann dir versichern, dass du dich heute nicht mehr vor mir fürchten musst.»HinweisDas Urteil des Kreisgerichts steht noch aus und wird demnächst veröffentlicht.

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.