01.06.2021

Rheintaler Medtechfirmen in der Offensive

Bilaterale Blockade, neue Regularien: So verteidigen Coltène, Oertli und GalvoSurge ihren EU-Marktzugang.

Von Thomas Griesser Kym
aktualisiert am 03.11.2022
Drei Punkte sind für die Schweizer Medizintechnikindustrie «zentral» im Verhältnis mit dem Ausland und speziell mit der EU: Erstens barrierefreier Zugang zum EU-Binnenmarkt, zweitens Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften und Talenten aus aller Welt und drittens die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Forschung. Das schreibt der Branchenverband Swiss Medtech, der 600 Mitgliedfirmen vertritt. Und zeigt sich «enttäuscht» darüber, dass der Bundesrat vergangenen Mittwoch die Verhandlungen mit der EU über das institutionelle Rahmenabkommen abgebrochen hat. Zumal die Branche mit insgesamt 1400 Betrieben und 63000 Beschäftigten erste Konsequenzen aus dieser Blockade bereits zu spüren bekommt.Denn just ebenfalls am Mittwoch hat die EU ihre neue Medizinprodukteverordnung (MDR) in Kraft gesetzt. Damit ab diesem Zeitpunkt die Schweizer Medizintechnikindustrie ihren barrierefreien Zugang zum EU-Markt hätte behalten können, hätte das bilaterale Abkommen zum Abbau technischer Handelshemmnisse (MRA) aktualisiert werden müssen. Was die EU aber verweigert hat. Schon Ende 2018 hatte sie klargemacht: Ohne Rahmenabkommen oder zumindest Fortschritte in den Verhandlungen darüber werde sie weder neue bilaterale Verträge abschliessen noch bestehende aktualisieren.«Beispielloser Einsatz»Die Schweizer Medtechbranche sieht sich deshalb nun im Verhältnis zur EU auf einen «Drittstaat» zurückgestuft. Als Folge müssen Schweizer Unternehmen ab sofort erhöhte Anforderungen für den Export ihrer Medizinprodukte in die EU erfüllen. Auf diesen Tag habe sich die Schweizer Medtechbranche «mit beispiellosem Einsatz so gut wie möglich» vorbereitet, heisst es seitens Swiss Medtech. Geschäftsleiter Peter Biedermann sagt, im Wissen um die politischen Mechanismen habe man dies der Branche schon vor zwei Jahren empfohlen.Was bedarf es in der Praxis, um den Export von Medizinprodukten in die EU lückenlos und unabhängig von der bilateralen politischen Situation sicherzustellen? Biedermann nennt in erster Linie die Benennung eines Bevollmächtigten im EU-Raum (EU Representative), der stellvertretend Herstelleraufgaben inklusive Produktehaftung übernimmt, sowie die entsprechende Neubeschriftung der Produkte (Labelling). Das hat seinen Preis. Der administrative Aufwand zur Erfüllung der Drittstaat-Anforderungen kostet die Schweizer Medtechbranche laut ihrem Verband schätzungsweise 114 Millionen Franken und jährlich wiederkehrend 75 Millionen Franken. Rein finanziell ist dies, angesichts eines Exportvolumens der Schweizer Branche in die EU von 5,2 Milliarden Franken, laut dem Verband «verkraftbar».GalvoSurge hat nichts anbrennen lassenWie sieht es nun in der Praxis aus? Roger Eberle ist Chef der GalvoSurge Dental AG in Widnau. Das Unternehmen steht im Finale des Swiss Medtech Awards 2021 und stellt Reinigungsgeräte für Dentalimplantate her. Eberle sagt: «Wir haben vor einem dreiviertel Jahr begonnen, uns vorzubereiten und sind punktgenau fertig geworden.» Das Geschäft sei nun «etwas aufwendiger und mit zusätzlichen Kosten verbunden».Konkret hat GalvoSurge zum einen eine Firma aus dem EWR-Mitgliedsland Liechtenstein angeheuert, die nun als Bevollmächtigte des Rheintaler Unternehmens in der EU fungiert. Zum anderen sind beispielsweise neue Gebrauchsanweisungen für die Reinigungsgeräte nötig. All das ist mit Kosten verbunden, sowohl externen als auch internen, die laut Eberle aber «verkraftbar» sind. Keine Probleme oder zusätzliche Aufwendungen sieht Eberle bei der Zulassung der Produkte. «Unsere Behörde für die Zulassung und Zertifizierung von Medizinprodukten ist der TÜV Süd in München. Das ist schon immer so gewesen und das bleibt auch so», sagt Eberle. Das Plazet des TÜV Süd gelte jeweils sowohl für die EU als auch für die Schweiz. Oertli Instrumente profitiert von EU-TochterfirmaIn Berneck entwickelt und produziert die Oertli Instrumente AG, die gut 200 Mitarbeitende zählt, Operationsplattformen und Instrumente für die Augenchirurgie. Mitte Februar hat die Firma den Spatenstich gesetzt für einen Erweiterungsbau für 30 Millionen Franken. Marketing- und Verkaufschef Thomas Bosshard, dem die Firma zusammen mit seinem Bruder und CEO Christoph Bosshard gehört, sagt: «An dieser Investition halten wir fest, das Geschäft läuft seit Anfang Jahr wieder sehr gut, und das Rheintal ist für uns der richtige Standort.» Auch Thomas Bosshard sagt, Oertli habe sich «lange auf die neuen Gegebenheiten vorbereitet und jetzt problemlos umgestellt». Weil man in Deutschland und Österreich eigene Vertriebsgesellschaften hat, wurde eine dieser Tochterfirmen als EU-Bevollmächtigte bestimmt. Im Weiteren hat Oertli die Qualitätsverantwortung einer externen Fachperson übertragen, mit der man schon lange zusammenarbeite. Diese Person ist zuständig für die Kommunikation in der EU mit den Behörden, was von ihr einen medizinischen Hintergrund ebenso erfordert wie technische und regulatorische Sattelfestigkeit. «Das ganze Prozedere ist nicht angenehm und verursacht Aufwand, ist aber beherrschbar und finanziell verkraftbar», sagt Bosshard. Mehr Sorgen bereite ihm die politische Blockade, was mit Ungewissheiten verbunden sei.Coltene: «Geld, mit dem keine Wertschöpfung verbunden ist»Ähnlich äussert sich Gerhard Mahrle, Finanzchef der in Altstätten domizilierten Coltene-Gruppe, die Verbrauchsmaterialien und Kleingeräte für Zahnarztpraxen und Dentallabors herstellt: «Die Nichtaktualisierung des MRA ist möglicherweise nur ein erster Schritt von weiteren Erschwernissen.» Um den Export in die EU wie bisher aufrecht zu erhalten, dient Coltene ihre Tochtergesellschaft nahe Ulm als EU-Bevollmächtigte und als Importeurin. Um alle Anforderungen zu erfüllen, veranschlagt Mahrle «mehrere hunderttausend Franken» Zusatzaufwand im Jahr. Das sei per se verkraftbar, aber: «Es ist Geld, mit dem keine Wertschöpfung verbunden ist und das wir lieber für Forschung und Entwicklung ausgeben würden.»Bosshard sagt zudem, unabhängig von der bilateralen Lage stelle die neue MDR der EU, welche die bisherigen Richtlinien abgelöst hat, deutlich höhere Anforderungen an die Branche etwa bezüglich Dokumentation, nachträgliche Marktbeobachtung nach erstmaliger Inverkehrsetzung eines Produkts usw. Mahrle nennt für Coltene weitere Punkte, etwa betreffend den Nachweis der biologischen Verträglichkeit.Einig sind sich die beiden, dass die höheren Anforderungen dem Zweck dienen sollen, die Patientensicherheit zu erhöhen. Doch Bosshard sagt auch: «Die MDR bringt einen enormen Aufwand mit sich. Das kann die Entwicklung von Innovationen im Sinne besserer medizinischer Lösungen behindern.» Anders Mahrle: «Die MDR kann auch Innovationen befeuern, indem sie Firmen animiert, bessere und einfachere Produkte zu entwickeln.» Sergej Kammerzell, Chef der Frauenfelder SIS Medical AG, die Ballonkatheter für die Kardiologie herstellt, äussert sich nochmals anders: «Die Medizintechnik wird teurer, ohne dass sie sicherer wird.» Die EU habe mit der MDR ein gut funktionierendes System «in ein Bürokratiemonster verwandelt».  SIS Medical hat ihre Zertifizierungsstelle gewechseltIm Verkehr mit der EU hat SIS Medical rechtzeitig vorgesorgt, wie Erhard Hüsler sagt, der für Qualität und Regularien zuständig ist. Weil im Frühling 2020 ruchbar wurde, dass die damalige Zertifizierungsstelle der Thurgauer Firma die Anforderungen der neuen europäischen Gesetzgebung nicht erfüllen wird, hat sie in weiser Voraussicht zum TÜV Nord gewechselt. «Da die Verlängerung des MRA nicht sicher war, entschied sich SIS für eine Zertifizierungsstelle in Deutschland, was sich nun als richtiger Entscheid bestätigt hat», sagt Kammerzell. Er weiss: «Ein solcher Wechsel dauert neun bis zwölf Monate und kostet hohe sechsstellige Beträge.» Und als EU-Bevollmächtigten hat SIS Medical ihr firmeneigenes Verkaufs­büro in Deutschland aufgerüstet, mit Unterstützung eines externen Dienstleisters und dessen Know-how. Kammerzell sagt, die MDR werde den Standort Europa schwächen. Noch einen Schritt weiter geht Swiss Medtech, der die Schweiz auch innerhalb Europas ins Hintertreffen geraten sieht. Denn, so Verbandspräsident Beat Vonlanthen: «Für aussereuropäische Firmen etwa, die ihren Hauptsitz in Eu­ropa stationieren wollen, verliert die Schweiz gegenüber EU-Ländern wegen der Drittstaat-Bürokratie massiv an Attraktivität für Investitionen.» Sorgen bereite dem Verband ausserdem, «dass Schweizer Start-ups ihren Sitz anstatt in der Schweiz vermehrt in der EU ansiedeln könnten».

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