16.07.2019

Reute übt sich in Selbsthilfe

Die Vorderländer Gemeinde nimmt Dinge immer wieder selbst in die Hand – jüngstes Beispiel ist die Übernahme eines Altersheims.

Von Philipp Wolf
aktualisiert am 03.11.2022
Reute ist eine spezielle Gemeinde. Sie besitzt keinen wirklichen Dorfkern, sie besteht stattdessen aus drei Ortsteilen, die sich in unterschiedliche Richtungen orientieren. Mohren in Richtung Altstätten, Schachen in Richtung Oberegg und Dorf in Richtung Berneck. Trotzdem wagt es Reute mit seinen gut 700 Einwohnern immer wieder, Dinge in die eigenen Hände zu nehmen. Jüngstes Beispiel ist die Übernahme des Alters- und Pflegeheims Sonnenschein. Während andere Gemeinden Aufgaben im Bereich der Altersfürsorge immer öfter an Private abtreten, geht Reute den entgegengesetzten Weg.Am Anfang dieses Unterfangens stand das Alters- und Pflegeheim Watt, welches seit jeher von der Gemeinde Reute betrieben wird. Weil in den vergangenen Jahren die Kosten und Anforderungen im Pflegebereich stetig stiegen, wurde es immer schwieriger, das «Watt» mit seinen 17 Bewohnerinnen und Bewohnern und 30 Mitarbeitern kostendeckend zu betreiben. Jakob Egli, seit dreieinhalb Jahren Leiter des Heims, sagt dazu: «Alle Fachleute sagten, dass es nicht möglich sei, das ‹Watt› kostendeckend zu führen.» Zwar gelang es Egli und seinem Team das Heim in den vergangenen Jahren so zu führen, dass nur kleine Defizite entstanden. Doch für die nahe Zukunft hatte sich der Gemeinderat bereits darauf eingestellt, dass allfällig jährlich ein Defizit des «Watts» gedeckt werden müsse, um das Heim am Leben zu erhalten, sagt Gemeindepräsident Ernst Pletscher. Es kam jedoch anders.Auslöser für die Übernahme des Alters- und Pflegeheims Sonnenschein waren Gespräche mit dem «Sonnenschein»-Betreiber Tertianum. Der Gemeinderat wollte Synergien zwischen den beiden Heimen nutzen. Doch dann habe man gemerkt, dass die Tertianum-Gruppe bereit war, das «Watt» zu übernehmen, sagt Egli. «Tertianums Überlegungen hinsichtlich einer Übernahme des ‹Watts› haben uns in der Absicht gestärkt, dass die Heime zusammen kostendeckend geführt werden können.» So hat der Gemeinderat schliesslich den Spiess umgedreht und beschlossen, das «Sonnenschein» zu übernehmen. «Es war zuerst ein Bauchentscheid, dann wurde durchgerechnet – und wir gewannen das Vertrauen der Stimmbürger», sagt Pletscher.Ein Dorf jenseits der Grundbedürfnisse Zu keinem Zeitpunkt hätte bei dem Übernahmevorhaben Profitstreben im Vordergrund gestanden, sagen sowohl Pletscher als auch Egli: «Es ging immer darum, das ‹Watt› zu bewahren.» Auch aus der Bevölkerung seien keine Stimmen zu vernehmen gewesen, man müsse mit dem neuen Projekt Gewinn schreiben. Und Pletscher fügt an, im Gemeinderat herrsche ein Konsens darüber, dass die Altersfürsorge nicht in die Hände Privater gehöre. Als am 19. Mai 2019 über das Vorhaben entschieden wurde, stimmten 68% für die Übernahme des «Sonnenscheins». Die Rüütiger standen mit einer eindeutigen Mehrheit hinter diesem Generationenprojekt. Dass am gleichen Tag bei der Abstimmung über das neue Waffenrecht nur sechs Stimmen den Unterschied zwischen Annahme und Ablehnung ausmachten, zeigt gleichzeitig, wie die Einwohner immer wieder verschiedene Ansichten vertreten. Wie kommt es, dass Rüütiger bei wegweisenden Unterfangen an einem Strick ziehen und gleichzeitig bei einer Sachfrage bloss eine hauchdünne Mehrheit entscheidet? Pletscher sagt zu den Eigenheiten der Rüütiger: «Jeder weiss, dass man relativ abgelegen ist vom restlichen Ausserrhoden. Man ist sich der Abhängigkeit untereinander bewusst.» Eine Zürcher Studie zum Appenzellerland habe Reute einmal als «Dorf jenseits der Grundbedürfnisse» beschrieben, weil die Rüütiger ohne grosse Ansprüche auskämen, sagt Pletscher. Wenn man etwas wolle, so müsse man es eben immer wieder selber organisieren. In seiner Abgeschiedenheit kennt Reute keine Grossunternehmen, die hohe Steuereinnahmen garantieren und viele Arbeitsplätze bieten. Potenzielle Entwicklungsfläche sucht man ebenfalls vergebens. Was andere als Nachteil empfinden könnten, sieht Pletscher nicht nur negativ. So habe man sich vielleicht ein wenig anders orientieren und andere Dinge in den Fokus nehmen müssen, sagt er. «Und das, was man hat, das will man behalten und bewahren.» Das Fehlen grosser Akteure habe den Vorteil, dass die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt gestellt werden könnten.Beim Alters- und Pflegeheim Watt lassen sich Pletschers Worte eins zu eins beobachten. Seit Generationen stehen im Heim die Menschen im Mittelpunkt und seit Jahrzehnten wird das Heim stetig weiterentwickelt. Neben alten, klassischen Holzelementen finden sich im Haus modernste Technologien. Das Bewahren der Tradition hat zur Folge, dass die Institution einen Charme besitzt, welcher vielen anderen modernen Heimen abgeht.Während dem Haus Sorge getragen wurde, entwickelte es sich zu einem Begegnungsort Reutes für Jung und Alt, an dem indirekt die Zukunft des Dorfes geformt wird: Als er die Leitung des «Watts» übernahm, habe grundsätzlich Fachkräftemangel geherrscht, sagt Egli. «Heute bilden wir im ‹Watt› Rüütiger Lernende aus, das schätzen die Dorfbewohner.» Die Gemeinde hat sich ihren eigenen Ausbildungsbetrieb geschaffen. Darüber hinaus habe lediglich eine von den 17 Mitarbeitern einen längeren Arbeitsweg als 15 Minuten.Zudem unterstützt das Heim das lokale Gewerbe. So viel wie möglich wird im Dorfladen eingekauft – der seit über 30 Jahren von einer Konsumgenossenschaft getragen wird. Weiter bietet das «Watt» einen Mittagstisch für die Primarschüler an. So könne es sein, sagt Egli, dass ein Schüler hier esse, während seine Mutter hier arbeite und sein Grossvater hier wohne.Das «Sonnenschein» soll dem «Watt» in nichts nachstehen Nicht nur Pletscher und Egli geraten beim Beschreiben des «Watts» ins Schwärmen. Bewohnerin Lina Bischofberger – die in wenigen Tagen ihren 95. Geburtstag feiert – hat ebenfalls nur lobende Worte übrig für die Institution und das Vorgehen der Gemeinde: «Ich bin glücklich hier, wir haben es gut.» Schon immer sei für sie klar gewesen, dass sie im Alter ins «Watt» wolle. Der Entscheid, das «Sonnschein» zu übernehmen, sei wichtig gewesen für die Zukunft des «Watts», sagt sie. Die positiven Voten ebben auch unweit des Heims nicht ab. «Es ist so harmonisch hier», sagt beispielsweise eine in Basel geborene Bäckerin im Dorf und bezieht sich dabei ebenso auf das «Watt» wie auf Reute im Allgemeinen.Pletscher und Egli haben sich nun zum Ziel gesetzt, das «Sonnenschein» ebenfalls in einen Ort zu verwandeln, in welchem menschliche Nähe den Vorzug erhält gegenüber dem Streben nach Profit. Ein nobles Vorhaben jenseits der Grundbedürfnisse.

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