12.11.2020

Retter unter Lebensgefahr

In Budapest bewahrte er Zehntausende Juden vor dem Tod. Jetzt erinnern sich Zeitzeugen an den Ausserrhoder Carl Lutz.

Von Rolf App
aktualisiert am 03.11.2022
Als im März 1944 die Deutschen in Ungarn einmarschieren, und die Ermordung auch der ungarischen Juden sich abzeichnet, desertiert Leutnant Pál András Fabry von seiner Truppe und geht in den Untergrund. Er nimmt Verbindung auf mit Miklós Krausz von der Jewish Agency, und der macht ihn in Budapest, dem letzten Fluchtort der Juden, bekannt mit dem Schweizer Diplomaten Carl Lutz.So kommt Fabry zu seiner wichtigsten Aufgabe: Er soll mit seinen Leuten das Glashaus schützen. Hier, in einer stillgelegten Glasfabrik, melden sich jene Juden, die einen jener Schutzbriefe benötigen, die Lutz auf wundersame Weise vermehrt. Fabrys Schutztruppe aber sieht aus, als müsste sie die Juden an einer Flucht hindern. Denn sie ist ausgestattet mit Nazi-Uniformen und falschen Papieren.«Er war ein Beispiel dafür, was möglich war»«Carl Lutz stach heraus wie ein Denkmal», erklärt Fabry, «er war ein Beispiel dafür, was möglich war.» Fabrys Bericht ist einer von vielen, in denen Zeitzeugen ihr Überleben schildern. Dabei spielen die von Lutz ausgestellten Schutzpässe eine zentrale Rolle. Das gerade erschienene Buch «Unter Schweizer Schutz» von Agnes Hirschi und Charlotte Schallié versammelt die Berichte von Zeitzeugen, und gibt auch eine Einführung in das, was der 1895 in Walzenhausen geborene Lutz geleistet hat im absoluten Chaos der von den faschistischen Mörderbanden der Pfeilkreuzler-Bewegung durchstreiften ungarischen Hauptstadt. «Die Tage zählten nicht», erinnert Fabry sich. «Man liess sich einfach von der Bewegung mitreissen, wie unter einem Opiat. Und ich glaube, Lutz war ebenfalls in Trance, in Trance, zu helfen: immer arbeiten, nicht aufhören, weitermachen.»Und dies alles unter Lebensgefahr – auch für den Diplomaten selbst. «Er hätte ermordet werden oder von den Deutschen mit Leichtigkeit beseitigt werden können», erinnert sich Mordechai Fleischer, der im Glashaus arbeitet und für die jüdischen Kinder Proviant beschafft. Wäre der Schwindel aufgeflogen: Nichts hätte ihn schützen können in dieser Stadt, in der in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs noch 60000 Juden ermordet werden.Diesen Schwindel hat Carl Lutz sorgsam eingefädelt, und er ist auch keineswegs allein. In seiner Einleitung beschreibt François Wisard, Leiter des Historischen Dienstes beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten, das Netz an Schutzaktivitäten, die sich in der fiebrigen, von Hunger und Tod geprägten Stadt entfalten. Die diplomatischen Vertretungen der neutralen Staaten – der Schweiz, des Vatikans, Spaniens, Portugals und Schwedens – spielen zusammen mit dem Roten Kreuz und den jüdischen Organisationen eine wesentliche Rolle. Sie legen Protest ein gegen eine geplante Judendeportation, und sie stellen Schutzdokumente aus für eigene Staatsbürger oder für Personen mit Verbindung zu ihren Ländern.Vizekonsul Carl Lutz befindet sich dabei in einer besonderen Position, weil er in Ungarn auch die Interessen Grossbritanniens vertritt, zu dessen Herrschaftsgebiet Palästina gehört. Dort will die Jewish Agency Juden ansiedeln, deshalb darf Lutz auch an ausreisewillige Juden Schutzpässe ausstellen. Dabei überschreitet er die ihm von den Behörden nach langen Verhandlungen zugestandene Zahl um ein Mehrfaches, hinzu kommen zahllose Fälschungen, die vom jüdischen Widerstand herausgegeben werden.Absoluten Schutz aber gewähren weder diese Dokumente noch die insgesamt 122 von den neutralen Staaten geschützten Häuser des «Internationalen Ghettos», in denen rund 15 000 Verfolgte Unterschlupf finden. «Tag für Tag tauchten Tausende arme Seelen im Glashaus auf», beschreibt der Widerstandskämpfer Rafi Benshalom die Lage, «wir befanden uns in einem Wettlauf gegen die Zeit.» In diesem Wettlauf entscheidet oft der Zufall über Leben oder Tod, manchmal auch Tarnung und Auftreten. Oder Instinkt. Der 15-jährigen späteren Philosophin Agnes Heller zerreissen die Pfeilkreuzler den Schutzpass, da bittet sie einen deutschen Soldaten, sie und ihre Mutter ins Ghetto zu begleiten. Sie verlässt sich darauf, dass ein Einzelner der «Verführung zum Guten» erliegt. Und bekommt Recht.Juden retten mit einem deutschen PassEgon Grünstein hat das Glück, falsche Papiere eines in der Tschechoslowakei verstorbenen Deutschen zu besitzen, zusammen mit einem Freund tritt er als deutscher Soldat auf. «Die Pfeilkreuzler führten die Juden an die Donau, erschossen sie und warfen sie ins Wasser», erinnert er sich. «Unsere Aufgabe war, sie zu retten. Wir zeigten unsere Ausweise, sagten, diese Juden seien Verbrecher und müssten sofort uns übergeben werden. Manchmal wollten sich die Pfeilkreuzler widersetzen, dann landeten sie selbst in der Donau. Danach brachten wir die Juden ins Glashaus.» Auch dem schlimmsten aller Naziverbrecher begegnet Grünstein. Ein Freund hat ihn gebeten, zum Bahnhof zu kommen, wo Adolf Eichmann, der Organisator der Judenvernichtung, gerade mehrere hundert Juden deportieren lassen will. Der Freund gibt sich als spanischer Botschafter aus, und erklärt, dies seien spanische Staatsbürger. Grünstein übersetzt. Nach längerem Disput gibt Eichmann nach: «Na gut, nimm sie.» Und sagt zu Grünstein: «Du bist ein richtiger deutscher Soldat.»HinweisAgnes Hirschi/Charlotte Schallié: Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest – Zeitzeugen berichten. Limmat Verlag 2020. Zweittext:Wie die ungarischen Juden ins Fadenkreuz gerietenViele starben, viele konnten sich retten, und der Ausserrhoder Carl Lutz hat dabei eine wesentliche Rolle gespielt: Die Budapester Juden gehörten zu den letzten, die 1944/45 ins Fadenkreuz zuerst der deutschen, dann der ungarischen Nazis gerieten (siehe Text oben).Doch dieses Morden hat eine lange Vorgeschichte, zu der ein tief verwurzelter, sich im Gefolge der bolschewistischen Machtergreifung in Russland radikalisierender Antisemitismus gehört. Denn viele dieser Kommunisten waren Juden. «Wenn es nach mir ginge, ich würde jeden Bolschewisten töten; und sie würden keinen leichten Tod sterben», zitiert der britische Historiker Ian Kershaw in seinem Buch «Höllensturz» eine ungarische Aristokratin aus dem Sommer 1919. Und weiter: «Denk nur daran, was diese dreckigen Juden einigen unserer besten Männer angetan haben. Und all meine Kleider und Juwelen sind weg!»Die Ungarn machen in diesen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg traumatische Erfahrungen. Ein von der bolschewistischen Machtergreifung Lenins in Russland inspiriertes kurzlebiges kommunistisches Experiment unter Béla Kun mündet in einen brutalen Bürgerkrieg, auf den «Roten Terror» folgt der «Weisse Terror», Pogrome gegen Juden inbegriffen. Die Oberhand behalten jene rechtsnationalen Kräfte, die 1920 unter dem Admiral Miklós Horthy ein autoritäres Regime installieren, das schon bald die ersten Massnahmen gegen die Juden beschliesst. Und das den Schulterschluss mit den italienischen und dann den deutschen Faschisten sucht. Was sie eint, das ist auch das Bestreben, die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs zu revidieren.Ungarn hat mit dem Friedensvertrag von Trianon wesentliche Teile seines Staatsgebiets verloren, und wird nun zu Hitlers Verbündetem. Mit dessen Angriff auf Polen und 1941 auch auf die Sowjetunion geraten auch Europas Juden in tödliche Gefahr. Die nationalsozialistische Politik, die lange auf eine Auswanderung der Juden gesetzt hat, schwenkt um. Hunderttausende osteuropäischer Juden werden erschossen oder in Konzentrationslager gesteckt. Ungarns Juden bleiben lange verschont, doch im März 1944 besetzen die Deutschen das Land und deportieren unter der Regie Adolf Eichmanns über 437000 Juden aus den Provinzen nach Auschwitz. Doch dann widersetzt sich Horthy. Er stoppt die Deportationen, und weigert sich, die Budapester Juden auszuliefern. Jetzt übernehmen die ungarischen Nationalsozialisten die Macht. Während die russischen Truppen immer näher rücken, verbreiten diese Pfeilkreuzler Angst und Schrecken unter den Juden. Viele werden am Ufer der Donau erschossen und in den Fluss geworfen. (R. A.)

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