05.08.2021

Regina Waibel kannte den letzten Überlebenden der Pockenpandemie

Regina Waibel aus Diepoldsau wuchs in der Nähe des «Pockenhauses» auf. Jahre später begegnete sie der Krankheit in England erneut.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Regina Waibel-Frei wurde zum zweiten Mal geimpft. Obwohl es zuträfe, bezieht sich diese Aussage nicht auf das Coronavirus. Die 79-jährige Schmitterin wurde gegen Pockenviren geimpft – zunächst als Kleinkind und ein zweites Mal im Jahr 1961.Das«Pockenhaus» stand in der NachbarschaftIn letzter Zeit erinnert sich die Seniorin rege an die Pockenpandemie. Diese suchte auch in Schmitter viele Menschen heim und brachte ihnen den Tod. «Ich kannte den letzten Überlebenden», sagt sie.Blicken wir sieben Jahrzehnte zurück. Damals ging Regina Waibel in die Primarschule. Ihr Vater war Schreiber und Kassier der Ortsgemeinde Schmitter. «Jeder Pächter kam einmal im Jahr zu uns ins Haus und entrichtete den Zins», sagt sie. Unter ihnen war Johann Weder-Oettli. Er wohnte in Sichtweite der Familie Frei, im «Pockenhaus».Damals waren die «Schwarze Blattern» im Dorf überstanden. Die Schülerin sah Johann Weder an, dass er die Krankheit erlitten hatte. «Seine Haut war gezeichnet, porös und aussergewöhnlich dunkel. Das vernarbte Gesicht war übersät von schwarzen Flecken», sagt Regina Waibel. Erschrocken habe sie der Anblick nicht. «Im Dorf sprach man über die Krankheit.»Jahrelang hatte Regina Waibel nichts mit den Pocken zu tun. Nach der Lehre ging die junge Frau mit einer Freundin für ein Au-pair-Jahr nach Oxford in England. «Mein Vater hielt uns Kinder alle an, Fremdsprachen zu lernen», sagt sie. Im Zweiten Weltkrieg habe er es als schlimm empfunden, deportierten Menschen in ihrer Not nicht helfen zu können. Nur, weil er sie nicht verstanden habe.Als die Freundinnen im Jahr 1961 in die Schweiz heimkehren wollten, mussten sie sich gegen die Pocken impfen lassen. In England war das Virus wieder ausgebrochen. «Im Studentenwohnheim, in dem wir lebten und arbeiteten, hatten wir nichts davon mitbekommen.» Obwohl beide Frauen als Kleinkinder den Schutz erhalten hatten, durften sie den Kontinent erst wieder betreten, nachdem sie erneut geimpft waren. «Ich war danach eine Woche lang krank im Bett», sagt Regina Waibel. Langfristige Nebenwirkungen hatte sie nicht, ihre Freundin spürte nichts. Wieder folgten Jahre, in denen Regina Waibel selten an die Pocken dachte, die Erinnerung verblasste aber nie.[caption_left: Das alte «Pockenhaus» wurde im Jahr 2017 in das Buch «Diepolds­au-Schmitter, wie es einmal war» aufgenommen.]Ihre Geschichte und die des «Pockenhauses» möchte die Seniorin dort erzählen, wo sich die Dorfgeschichte abspielte und führt hinaus an den Dorfrand. «Früher lag es abseits von Schmitter», sagt sie. Heute steht auf dem Grundstück ein neues Haus. Der Schriftzug «Pockenhaus» erinnert an die lokale Geschichte einer Seuche.[caption_left: Brigitte und Stefan Benz haben im Jahr 1999 am selben Ort einen Neubau errichtet. Der Schriftzug erinnert an die Dorfgeschichte.]Der Höhepunkt der Pandemie traf das Dorf in den Jahren 1905/06. In der Zeit starben dreissig Menschen im «Pockenhaus». Niemand durfte zu den hoch ansteckenden Kranken, sie mussten sich selbst versorgen. Erlag jemand dem Leiden, wurde er frühmorgens vergraben. Niemand durfte sich verabschieden oder Anteil nehmen.Nach dem Ersten Weltkrieg wurde aus dem Seuchenhaus ein Vierfamilienhaus. Als der Zweite Weltkrieg überstanden war, kaufte Konstantin Thurnherr das Gebäude, im Erdgeschoss richtete er eine Korberei ein. Nach ihm lebte Pia Benz 54 Jahre lang dort. Sie war das älteste seiner vier Kinder. Heute lebt sie im Altersheim. Aus dem alten «Pockenhaus» zog Pia Benz 1999 aus. Es war baufällig. Ihr Sohn Stefan und Gattin Brigitte Benz kauften die Liegenschaft und errichteten den Neubau.Als Impfschummlerin betiteltVor einigen Monaten erhielt Regina Waibel die erste Dosis der Coronaimpfung. «Ich wurde harsch angegangen und als Impfschummlerin bezeichnet.»Was war geschehen? Zu der Zeit sah die Priorisierung vor, dass jene an der Reihe waren, die zwischen 76 und 100 Jahre alt waren. Man schätzte die 79-jährige Dame auf 68. Sie hat keine grauen Haare, ihre Haare sind auch nicht gefärbt. «Sie müssen nicht nur auf die Haare schauen, sondern auch auf den Hals», habe sie entgegnet, sagt Regina Waibel. Als sie ihren Ausweis vorlegte, war ihr die Entschuldigung gewiss.  

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