17.09.2021

Profiler Axel Petermann: «Der Mörder lebt unter ihnen»

Der Kriminalist Axel Petermann rollt den ungeklärten Mord an zwei Goldacher Teenagern bei der Kristallhöhle Oberriet neu auf.

Von Marcel Elsener
aktualisiert am 03.11.2022
Man will nicht hinschauen und kann es doch nicht lassen: So geht es einem mit grauenvollen Bildern. Und so wird es vielen Leuten gehen, wenn die Kristallhöhlenmorde von Oberriet wieder zum Thema werden, erst recht in der Ostschweiz. Nach Hunderten Medienberichten, Bucherzählungen in Krimiform («Kristallhöhle») oder als Sachstoff («Hoffen auf Aufklärung») und einem Theaterstück («Höhlenmord») erscheint ein weiteres Buch über den ungeklärten Mord an den Goldacherinnen Brigitte Meier und Karin Gattiker, die im Oktober 1982 im Alter von 17 und 15 Jahren in der Nähe der Kristallhöhle tot aufgefunden wurden.[caption_left: Axel Petermann, Profiler und Buchautor. (Bild: pd)]«Im Auftrag der Toten» heisst das Buch, der mysteriöse Doppelmord von Oberriet nimmt neben zwei ebenfalls ungeklärten Mordfällen in München und Athen auf 135 Seiten einen Drittel davon ein – als prominenter «Cold Case» aus der Schweiz. Mit wahren Kriminalfällen kennt sich der Buchverfasser aus: Axel Petermann arbeitete jahrzehntelang als Mordermittler und Fallanalytiker (Profiler) in Bremen und hat sich als Dozent für Kriminalistik und Fachberater von TV-Serien wie «Tatort» einen Namen gemacht. Seit seiner Pensionierung beschäftigt sich der 69-Jährige im Auftrag von Angehörigen und Anwälten mit der Aufklärung von ungeklärten Todesfällen.Vor Ort die möglichen Tatvorgänge rekonstruiertNun hat sich der Starprofiler also im St.Galler Rheintal «auf die Spur des Bösen» gemacht. Der Anlass war 2016 eine Ortsbegehung mit dem «Sonntagsblick»-Reporter Walter Hauser, der die Kristallhöhlenmorde für eine Artikelserie über ungeklärte Verbrechen neu recherchierte; in der Folge baten Hinterbliebene der Opfer und Thomas Benz von der IG Kristallhöhle, der sich wie kein anderer der Aufklärung des 2012 verjährten und von der Justiz längst abgeschlossenen Falls widmet, Petermann um Unterstützung.Die ungewöhnlichen Morde und «widerstreitenden Fantasien» interessierten den norddeutschen Kriminalisten: «Einerseits musste ich an eine vermeintlich heile schweizerische Bergwelt denken, mit einem verwunschenen Wald und einer mystischen Kristallhöhle, Feen, Bergkristallen und Amethysten, andererseits an einen bösen Zauberer in Gestalt eines bis ins letzte Detail planenden Mörders, der für die Opfer seiner Taten ausgeklügelte Verstecke gefunden hatte.» Ein Trugbild, wie ihm schnell bewusst wurde, weil es für den Mord keinerlei Beweise gab.Mit der Hilfe von Benz und weiteren Informanten macht sich der Profiler mit aufwendigen und teils halsbrecherischen Tatortbegehungen und Rekonstruktionen an die Arbeit. Freilich muss er 35 Jahre nach der Tat einsehen, was die St.Galler Ermittler schon damals resignieren liess: Es gibt keine Sachbeweise, und die Tatverdächtigen beteuern ihre Unschuld, das DNA-Verfahren kam erst ab 1985 in Gebrauch.[caption_left: Sie verschwanden am 31. Juli 1982 auf einer Velotour in Kobelwald, im Oktober wurden ihre Leichen gefunden: Die Goldacherinnen Karin Gattiker (links) und Brigitte Meier. (Bild: Archiv)]Kein Wunder, kann auch Petermann den Täter nicht eruieren, doch seine Ermittlungen beschränken den Kreis der Verdächtigen mutmasslich auf einen 2007 verstorbenen Höhlenwart, einen Geologen und einen Wirt, die alle mit der Höhle zu tun hatten. Er geht von einem 25- bis 35-jährigen kräftigen Mann mit guten Ortskenntnissen und massiven Selbstwertproblemen aus, der die Tat nicht plante und weder pädophil noch sadistisch veranlagt war.«Der Name des Täters findet sich in den Akten»Mit dem Ausleben eines Rituals oder «bizarren Sexual- und Tötungsfantasien», wie es die Polizei zeitweise angenommen hatte, habe die Tat «nichts zu tun», schreibt Petermann. «Der Mörder war nicht der cruisende Täter, der sich in sein Auto setzt und sich – rastlos und von seinen Fantasien getrieben – auf die Suche nach einem potenziellen Opfer begibt.» Vielmehr habe er situativ gehandelt, vermutlich motivierte ihn «Frust- und Stressabbau».Zwar hütet sich der Autor vor Spekulationen, doch eine Erkenntnis ist ihm am Ende sicher, man liest sie mit Schaudern: «Der Mörder hat sich durch seine Entscheidungen beim Verstecken der Leichen selbst verraten, denn er bewies damit seine aussergewöhnliche Ortskenntnis. Sein Name stand bereits im Fokus der Ermittlungen und findet sich in den Akten. Sein Alibi wurde überprüft, doch es lagen keine faktischen Beweise gegen ihn vor – lediglich ein Verdacht. Und die Menschen aus der Kobelwalder Region werden ihn auch aufgrund meiner Beschreibung erkennen, denn der Mörder lebt(e) unter ihnen.» Die unheimliche Schlussfolgerung zog Petermann schon bei seinem von über 200 Personen besuchten Vortrag im Jahr 2019 vor Ort. Mit seinem Buch hofft der Autor, den Täter und seine möglichen Helfer zu erreichen, sofern er noch lebe. «Um ihnen zu vermitteln, dass ihre Morde nicht vergessen sind. Und vielleicht können die Beiträge dazu führen, dass sich die Täter offenbaren, um sich, ähnlich einer Beichte, zu entlasten.»Eine leise Hoffnung auf das Geständnis des Täters«Ich weiss nicht, was es mit mir machen würde, wenn nun der Täter doch noch gefunden würde», hat Brigitte Meiers Bruder dem Autor geschrieben. Mit dem Schicksal des Verlusts müsse er selber fertigwerden, der Täter verdiene keinen Platz in seinem Leben. Doch sei er sich sicher, «dass auch der Täter damit zu kämpfen hat, denn er hat die Bilder, die Schreie, die Geräusche im Kopf. Und wohl niemanden, mit dem er darüber reden kann».Petermanns Kontaktsuche mit den Angehörigen gehören zu den traurig beklemmendsten Passagen in einem fesselnden Buch, das zweifellos auch seine Schweizer Leserschaft finden wird. Diese muss aber über einige Zugeständnisse ans deutsche Publikum hinwegsehen können, wenn etwa von «Almöhi-Romantik» und der «St.Gallener» Mordkommission die Rede ist und bei Gesprächen das «reinste Schwyzerdütsch» bedauert wird. Irritierend ist die von der Rechtsabteilung des Verlags geforderte Anonymisierung der Opfer und der meisten Auskunftspersonen.Bedenken gegenüber dem Buchvorhaben hatte die St.Galler Staatsanwaltschaft, die 2017 alle Beweismittel vernichten liess. «Der Fall ist verjährt. Es wird nie zu einer erneuten Untersuchung, einer Anklage oder einem Urteil kommen», liess sie damals verlauten. Der Antrag auf Akteneinsicht wurde dem Profiler verwehrt. Zwar könne eine «kritische Betrachtung einer konkreten Untersuchungsführung durchaus im öffentlichen Interesse liegen», wurde ihm beschieden. «Andererseits liegt auch im öffentlichen Interesse, dass Rechtsfrieden einkehren darf.» Zudem schliesse sie nicht aus, so die Staatsanwaltschaft, dass im Buch eine «reisserische oder tendenziöse Darstellung» gewählt werde. Zu Aussagen bewegen liess sich immerhin der damalige Untersuchungsrichter (Niklaus Oberholzer, später Bundesrichter, nicht namentlich genannt), der das Verfahren aber erst zwei Jahre nach dem Zeitpunkt der Tat übernommen hatte. Er erklärt unter anderem den Ausschluss von zeitweiligen Hauptverdächtigen wie einen bekannten «Triebtäter». Die Eltern von Brigitte sind «an dem Schmerz gestorben», die Eltern von Karin «können einfach nicht mehr», wie ihre Nächsten wissen. Eine Tante erinnert an die Empörung über das dreiste Verhalten der Medien: «Über Wochen und Monate standen Reporter vor der Tür (...) Sobald jemand nach draussen ging, wurde er verfolgt.» Karins Vaters sagt nur noch: «Es ist erledigt.»Nicht erledigt ist das grauenvolle Verbrechen für den Rheintaler SVP-Nationalrat Mike Egger, der zur Anlaufstelle jener geworden ist, die weiterhin eine Klärung erwarten. Er brachte eine Standesinitiative des Kantons St.Gallen durch, wonach Mord strafrechtlich nicht mehr nach 30 Jahren verjähren soll. Nachdem der Ständerat das Anliegen knapp verworfen hatte, jedoch der Nationalrat dafür war, geht die Vorlage nun zurück an den Ständerat, der sich im Winter nochmals damit befasst.Der Profiler tut sich schwer mit der Verjährung, obwohl er den Sinn hinterfragt, «nach vielen Jahrzehnten eine lange zurückliegende Tat zu sühnen». Andererseits dürfe man das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen nicht vergessen, die ein «Anrecht auf Aufklärung und auch Sanktionierung» hätten.Axel Petermann: Im Auftrag der Toten. Cold Cases - ein Profiler ermittelt. Heyne Verlag. Fr. 19.90. Lesungen 5. und 8.10 im Landgasthof Hölzlisberg, Eichberg, jeweils 19 Uhr (mit Voranmeldung) sowie 6.10 in St.Gallen (Orell Füssli) und 12.10 in Buchs (Books)

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