12.01.2022

Polizei half ungewollt betrunkenem Fahrer

Entgeht ein Betrunkener trotz abenteuerlicher Fahrt durchs Städtli einer Strafe, weil die Polizei nachlässig war?

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 02.11.2022
Diesen Eindruck konnte man an einer ersten Verhandlung des Kreisgerichts Rheintal am Montagvormittag gewinnen. Der Angeklagte und sein Verteidiger freuen sich bereits über einen Teilerfolg. Die polizeiliche Einvernahme des Angeklagten wurde vom Richter für unverwertbar erklärt. Die Polizei hatte es versäumt, den Mann über sein Recht auf eine amtliche Verteidigung aufzuklären.Fassade gestreift und Sitzbank gerammtAm 6. Juni 2020, um elf Uhr nachts, bog der junge Mann nach einem Beizenbesuch mit einem Lieferwagen in den «Gemüsemarkt» ein und streifte hier die Mauer eines Hauses. Über Rabengasse und Breite-Kreisel fuhr er zurück auf die Trogenerstrasse, um diesmal eine Strasse weiter unten erneut in die Altstadt einzubiegen. In der Obergasse lenkte er das Fahrzeug auf einen Parkplatz und rammte die auf einem kleinen Plätzchen stehende Sitzbank. Der Mann liess den Wagen stehen – und ging nach Hause.Ein später durchgeführter Atem-Alkoholtest durch die Polizei ergab einen rechtlich relevanten Wert von 0,94 mg/l – oder, wie es früher hiess: gut 1,8 Promille.Die Staatsanwaltschaft sähe den Mann gern mit einer Geldstrafe von 6600 Franken (110 Tagessätze à 60 Franken), bei einer Probezeit von drei Jahren, bestraft und wünscht überdies eine (zu bezahlende) Busse von 2500 Franken. Diese ist zu einem grossen Teil dazu gedacht, «die Ernsthaftigkeit der bedingten Geldstrafe zu verdeutlichen», wie es in der Anklageschrift heisst. Die Untersuchungskosten belaufen sich auf knapp 3500 Franken.Mehr als ein Fragezeichen hinter Arbeit der PolizeiDer Verteidiger, Daniel Kaiser aus Rüthi, wird einen Freispruch verlangen und hat zumindest drei, vier Trümpfe in der Hand. Denn hinter die Arbeit der Polizei ist mehr als ein Fragezeichen zu setzen.Die Fahrt des Angeklagten hatten zwei Frauen beobachtet, die im Ausgang gewesen waren und die Polizei verständigten. Diese besuchte den Fahrzeughalter (der, wie sich herausstellte, nicht selbst mit dem Fahrzeug gefahren war). Der Fahrzeugeigentümer reagierte weder auf das Klingeln der Polizisten noch auf das heftige Klopfen an der Tür. Weil beim Rundgang um das Haus starker Rauch im Haus feststellbar und die Balkontür nicht verschlossen war, betraten die Polizisten das Gebäude und fanden den Mann in der Stube vor, wo er bei laufendem Fernseher eingeschlafen war.In der Küche kochte es heftig, in der Pfanne waren zwei noch eingepackte Würste. Ein Tuch direkt bei der Pfanne habe «schon zu motten angefangen», sagte einer der Polizisten bei seiner Befragung als Zeuge dem Richter.Durften Polizisten die Wohnung betreten?Der Fahrzeughalter stellte sich als der Vater des Gesuchten heraus, der anderswo zu Hause ist und an diesem Tag den Lieferwagen zur Verfügung hatte. Der Vater begleitete die Beamten zur Wohnung des Sohnes und «anerbot sich, die Tür aufzuschliessen», wie einer der Polizisten dem Richter sagte; der Mann besitzt einen Schlüssel.Doch es gibt bei all dem zwei Probleme. Das erste steckt in dieser rhetorischen Frage des Verteidigers an den Polizisten: «Sie betraten die Wohnung des Vaters ohne Hausdurchsuchungsbefehl?» Die Antwortet lautet ja, doch angesichts des Rauches in der Wohnung lässt sich immerhin argumentieren, es sei geschehen, um eine Gefahr abzuwenden.Etwas anderes ist problematischer. Die Polizisten hatten es versäumt, den Vater auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hinzuweisen. Sie hätten ihm auch sagen müssen, dass er nichts unternehmen muss, was seinem Sohn schaden kann. Die Kooperationsbereitschaft des Vaters entband die Polizei nicht von der Pflicht, die Möglichkeit eines Mitwirkungsverzichts ausdrücklich zu erwähnen. Hätte der Vater, was sein Recht gewesen wäre, jegliche Auskunft verweigert und die Polizisten nicht zum Sohn geführt, hätten diese nicht gewusst, wer den Lieferwagen gelenkt hatte. Der Verteidiger hält deshalb die erhobenen Beweise für unverwertbar.Fotos gemacht, aber Beweisstück gelöschtZwei weitere Aspekte lassen die Polizei nicht im besten Licht erscheinen. Ein Glassplitter, der bei der gestreiften Fassade gefunden wurde, soll zwar ganz genau zum in der Obergasse abgestellten Fahrzeug gepasst haben. Das jedenfalls erklärte ein Polizist vor Gericht. Der Splitter kommt jedoch in den Akten nicht vor.Es gibt auch kein Foto, das den Splitter zusammen mit dem Beleuchtungskörper zeigt und vor Augen führt, dass er hierhergehörte. Fotos wurden zwar gemacht, aber vielleicht versehentlich oder aufgrund eines technischen Versagens gelöscht; der Grund ist unklar.Weder Fassade noch Bank gross beschädigtDer angerichtete Schaden liegt praktisch bei Null. Der als Zeuge vorgeladene Eigentümer des Hauses, dessen Fassade gestreift wurde, bezeichnete den Schaden als «nicht erwähnenswert»; er hätte ihn gar nicht bemerkt, wäre er auf ihn nicht hingewiesen worden. Auch die gerammte Sitzbank trug keinen namhaften Schaden davon.Nach der dreistündigen Verhandlung am Montag wird das Gericht auf Antrag der Verteidigung auch noch die beiden Frauen als Zeuginnen befragen. Zu diesem Zweck wird ein neuer Termin festgesetzt. Dann dürfte auch das Urteil fallen.

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