18.10.2019

Olivers Bescherung

Ein Müsterchen aus Jack Griss’ mittlerweile beträchtlichen Sammlung an Geschichten. «Olivers Bescherung», eine nachdenklich stimmende Weihnachtsgeschichte, las er 2001.Mit traditionellem Feiertagsgehabe hatte Oliver nichts am Hut. Die ganzen Dinge mit Weihnachtsbaum, Geschenkpäckchen oder gar etwa Mitternachtsmesse kommentierte er knapp mit: «Alles Scheisse, Mann!»Die Eltern Olivers bemühten sich redlich, für die Haltung und die Kommentare ihres 17-jährigen Sohnes einigermassen Verständnis zu gewinnen. Immer hatte er es gut bei ihnen gehabt im gutbürgerlichen Haushalt. Er hatte alle Spielzeuge erhalten, die er sich gewünscht hatte, jeweils an Weihnachten, wenn das Christkind wieder einen vollen Gabentisch und einen Superbaum hergezaubert hatte. Auch das Jahr hindurch musste Oliver auf nichts verzichten, und er war bis vor zwei Jahren ein braver Sohn und der ganze Stolz seiner Eltern gewesen.Seit er in der weiterbildenden Schule war, schien sich Oliver vom ganzen Stolz eher zum ganzen Kummer verändert zu haben. Weder seine Mutter und schon gar nicht sein stets gestresster Vater wussten genau zu sagen, wo und mit wem Oliver den grössten Teil seiner Freizeit verbrachte.«Ja, wo treibt sich der Junge denn die ganze Zeit herum?! Verdammt noch mal, ich arbeite das ganze Jahr wie ein Tier, um uns ein angenehmes Leben zu ermöglichen, und du hockst zu Hause und weisst nicht einmal, wo sich Oliver heute, heute am Heiligen Abend befindet?! Alle seine verdammten Wünsche haben wir ihm immer erfüllt! Und jetzt, jetzt wo am Heiligen Abend Bescherung wäre, ist dein Herr Sohn natürlich nicht anwesend!», brüllte Herr Grass seine Frau am Weihnachtsabend an.Frau Grass schluchzte immer noch heftig, als es an der Haustür klingelte. Sie trocknete sich notdürftig die Tränen, öffnete die Tür. Draussen stand ein Polizist, und Frau Grass hörte wie in Trance den Polizisten sagen: «Guten Abend, Frau Grass. Entschuldigung. Ich muss ihnen leider mitteilen, dass ihr Sohn vor einer Stunde in der Toilette des Restaurants Frohsinn tot aufgefunden wurde. Er hat sich, ersten Erkenntnissen zufolge, den goldenen Schuss gegeben.»Und indem er der sprachlosen Mutter einen Zettel aushändigte, sagte der Polizist noch: «Mein Beileid!» … «und schöne Festtage», wollte er fast automatisch noch anfügen, doch er wandte sich ab und ging.Jack E. Griss

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