25.04.2021

"Ohne meine Frau wäre ich tot"

Der Diepoldsauer Diego H. war sich lange Zeit nicht klar darüber, dass er von nur einem Gedanken getrieben wurde.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Auf den ersten Blick ist Diego H. (Pseudonym) seine Krankheit nicht anzusehen. Er wohnt mit seiner Frau in einem Haus, geht gern joggen, arbeitet als Quality Engineer in einer lokalen Firma und engagierte sich lange Zeit im Verein der Anonymen Alkoholiker. Was sich hinter verschlossenen Türen abspielte, blieb lange verborgen. Erst als ihn seine Frau verlassen wollte, erkannte der 54-Jährige: «Ohne sie saufe ich mich zu Tode.»1000 Gründe zum Saufen Seine Jugend verlief unspektakulär. Diego wuchs mit seinen Geschwistern in Rorschach auf, besuchte die Schule und absolvierte später die Lehre zum Automechaniker. «Bis ins Alter von 16 Jahren habe ich keinen Tropfen Alkohol getrunken», sagt Diego H. Als ambitionierter Handballer feierte er gemeinsam mit seinen Kollegen den einen oder anderen Sieg mit einem Bier. Der Konsum hielt sich jedoch in Grenzen und über den Durst wurde nie getrunken.Nach und nach verlor der Sport an Bedeutung und Diego begann des Öftern ein Glas zu heben. Um die 30 wurden die Mengen, die er zu sich nahm, grösser und die Abstände zwischen dem Trinken kürzer. Er habe eigentlich alles getrunken – Bier, Wein, Spirituosen –, aber Wodka war sein Favorit. Einerseits konnte er mit kleineren Mengen eine grosse Wirkung erzielen, andererseits war er der Meinung, dass die Ausdünstungen nicht so stark wären wie beim Bier oder Wein.Auf Phasen mit höherem Konsum, folgten Phasen kon­trollierten Trinkens. «Durchschnittlich trank ich zwei bis drei Liter Bier und eine knappe Flasche Wodka pro Tag», sagt der Anonyme Alkoholiker, «am Wochenende eher mehr.» Er habe nicht genau Buch geführt. Rückblickend betrachtend könne er aber sagen, dass es viel zu viel gewesen ist. Er brauchte keine besonderen Situationen, um zu trinken. Er trank mit Freunden oder im Restaurant, an Vereinsabenden, Familienfeiern und Arbeitsfesten – doch meistens allein. Er trank aus Freude ebenso wie aus Frust und Lange­weile: «Früher gab es 1000 Gründe zu trinken», sagt Diego H., «Heute gibt es keinen einzigen Grund zum Saufen.» Fürs Leben und die Familie entschiedenDa er nur am Abend getrunken hatte, liefen die Tage normal ab. Kaum jemand bemerkte seine Sucht. Den Stoff beschaffte er sich in Supermärkten oder, um nicht aufzufallen, an verschie­denen Tankstellen. «Wenn viele Leute beisammen waren, habe ich mich mit Trinken zurückgehalten», sagt Diego H., «ebenfalls wenn ich mit meiner Frau zum Essen ausging.» Weil er sich nie ins Koma soff und sich nur selten volltrunken in der Öffentlichkeit zeigte, blieb alles geheim. «Nur meine Frau äusserte sich zunehmend besorgt über mein Verhalten und meine Gesundheit», sagt der Diepolds­auer. «Doch wenn sie mich auf meine Sucht ansprach, wollte ich alles Schönreden, wurde laut und aggressiv, aber niemals gewalttätig.»  2010 – nach 15 Jahren intensivem Alkoholkonsum und etlichen Versuchen, dem Feuerwasser zu trotzen, begann er mithilfe seiner Frau zu realisieren, dass sich sein Leben um den Alkohol drehte. «Ich glaubte, ohne Alkohol nicht mehr klarzukommen, und wurde vom Verlangen zu Saufen getrieben», sagt der 54-Jährige.Erst die Tatsache, dass, wenn er nichts ändert, er alles verlieren würde, brachte ihn dazu, sich fürs Leben und die Familie und gegen den Alkohol zu entscheiden. Dank der Unterstützung seiner Frau und ihrer beiden Kinder, von denen er nicht der Vater ist, sie aber schon sehr lange kennt, überstand er 2011 einen Entzug mit anschliessender Therapie.  Alkohol ist ein Lösungsmittel  Hat sich Diego H. früher Abend für Abend an Bier und Wodka berauscht, erfreut er sich heute an einem Lächeln seiner Frau. Auch wenn sich sein Leben, seitdem er trocken ist, zum Positiven hingewendet hat, war es ein hartes Stück Arbeit. Schon vor dem Entzug gab es Phasen, in denen er nur wenig Alkohol konsumiert hatte, und trotzdem  gelang es ihm nicht, trocken zu bleiben. Dank der grossen Un­terstützung seiner Familie, seinen Freunden bei den Anonymen Alkoholikern und seinem eisernen Willen, die Aufgabe zu meistern, blieb er fast zehn Jahre abstinent. «Leider hatte ich letztes Jahr zu Beginn des Lockdowns ei­-nen heftigen Rückfall», sagt der Quality Engineer. Während vier Tagen fiel er in alte Strickmuster zurück. Damit hätte er nie gerechnet, obwohl er wusste, dass Alkohol trügerisch und mächtig ist. Wie jeder, der mit Alkohol zu kämpfen hat, habe auch er gedacht, ein Bier oder ein kleiner Wodka gehe schon, das sei nicht viel und er könne jederzeit wieder aufhören. «Falsch gedacht», sagt Diego H., «und wieder einmal habe ich bei den Anonymen Alkoholikern Hilfe gesucht und gefunden.» Aktuell gehe es ihm wieder gut, er fühle sich munter und vor allem vom Alkohol befreit. «Alkohol ist ein Lösungsmittel, das nicht unterschätzt werden darf», sagt Diego H., «er löst Beziehungen und Freundschaften, aber auch Fahrerlaubnisse und Arbeitsverhältnisse auf. Das Einzige, was der Alkohol nicht auflösen kann, sind die eigenen Probleme. Die bleiben.»Zweittext«Das Glas die nächsten 24 Stunden stehen lassen»Alkohol ist in der schweizerischen Kultur verankert: Rund 85 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren trinkt mehr oder weniger häufig Alkohol. Doch Alkohol ist kein gewöhnliches Konsumgut, sondern eine psychoaktive Substanz, die viele Schä­den verursachen kann. Marianne Egli unterstützt die Anonymen Alkoholiker in der deutschen Schweiz als Kommunikationsfachfrau.Marianne Egli, was sind die Anonymen Alkoholiker?Marianne Egli: Hilfe durch Gemeinschaft und Solidarität lautet das Motto. Im Zentrum steht die Alkoholkrankheit. Die Anonymität ist das Grundprinzip. In lokalen Selbsthilfegruppen treffen sich Alkoholkranke und sprechen über ihre Ängste, Herausforderungen und Erfolge im Alltag. In der Schweiz wurde 1963 die erste AA-Selbsthilfegruppe gegründet. Mittlerweile besteht ein Netz von zirka 170 Kontaktgruppen. Die AA sind eine unabhängige, weltweite Non-Profit-Organisation, die sich aus freiwilligen Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert. Für Anonyme Alkoholiker gilt 100-prozentige Abstinenz. Dabei nehmen sich die AA vor, das Glas die nächsten 24 Stunden stehen zu lassen. Wer konsumiert in der Schweiz Alkohol?Rund 90 Prozent der Männer und 83 Prozent der Frauen ab 15 Jahren konsumieren zumindest gelegentlich Alkohol. Mehr als eine von zehn Personen ab 15 Jahren trinkt täglich Alkohol. Dieser Anteil ist bei den Männern etwa doppelt so hoch wie bei den Frauen. Und er nimmt mit dem Alter deutlich zu, von 1,5 % bei den 15 – 24-Jährigen auf fast 20 % bei den Frauen ab 75 Jahren und auf über 40 % bei den Männern.Welche Konsummuster kennt man?In der Regel wird zwischen ri­sikoarmem, problematischem und abhängigem Konsum unterschieden. Alkoholkonsum gilt dann als risikoarm, wenn massvoll und an die jeweilige Situation angepasst getrunken wird. Faktoren wie Alter, Geschlecht, Alkoholmenge und das Umfeld, in dem getrunken wird, spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Übergang von einem problematischen zu einem abhängigen Alkoholkonsum ist fliessend. Eine Alkoholabhängigkeit wird nicht über die Menge des konsumierten Alkohols definiert, sondern ist eine Krankheit, die anhand bestimmter, international festgelegter Kriterien diagnostiziert wird.Wann ist ein Entzug oder eine Therapie sinnvoll?Wenn der Drang nach Alkohol den Alltag bestimmt oder wenn körperliche Entzugserscheinungen auftreten. Wenn Alkohol trotz schädlicher Folgen konsumiert wird oder wenn der Leidensdruck so hoch wird, dass der Betroffene selbst einen Ausweg aus seiner Sucht antritt.Warum kommt es zu Rückfällen und wie können sie vermieden werden?Die Alkoholsucht ist eine Krankheit, die nicht heilbar ist. Stresssituationen, finanzielle, berufliche oder private Probleme können zu Rückfällen führen. Fachleute reden von einer Erfolgsquote von einem nied­rigen einstelligen Prozentbereich der Patient*innen, die nach einer erfolgreichen Behandlung lebenslang «trocken» bleiben. Entsprechend hoch  ist die Rückfallquote. Manche schaffen es erst nach mehreren Anläufen.  Was raten Sie Angehörigen?Die Alkoholsucht ist eine Krankheit, die die ganze Familie und das Umfeld der Betroffenen betrifft. Die Folge sind Schuldgefühle und Ratlosigkeit bei den Partnern, soziale und finanzielle Probleme. Weil die Betroffenen oft nicht zugeben, dass sie ein Problem haben – und die Schuld bei ihrem Umfeld suchen, ist es wichtig, dass Angehörige Hilfe suchen. Durch Schuldgefühle oder Hilfsbereitschaft gegenüber den Trinkenden kann es bei Angehörigen oft zu einer Co-Abhängigkeit kommen. (bes) Hinweis: www.anonyme-alkoholiker.ch 24h-Hotline: 0848 848 885.

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