02.07.2019

«Oft quälten mich Geldsorgen»

Seit 20 Jahren ist Daniel Schelling Heimleiter im Kinder- und Jugendheim Bild. Im Interview erzählt er von schlaflosen Nächten und vom Verhältnis zu den Eltern der Kinder, die hier fremdplatziert werden.

Von Interview: Max Tinner
aktualisiert am 03.11.2022
Interview: Max TinnerDer 1. Juli 1999 war für das Kinder- und Jugendheim Bild ein denkwürdiger Tag. Im Heim, das der Katholischen Waisenguts- und Fondsgemeinde Altstätten gehört, einer ortsbürgerlichen Korporation, bestehend aus den katholischen Ortsbürgern, wurde mit jenem Tag alles anders. Während 111 Jahren war das frühere katholische Waisenhaus von Ingenbohler Ordensschwestern geführt worden. Als sich die Schwestern vor 20 Jahren zurückzogen, suchte die Waisengutsgemeinde einen Heimleiter, der das «Bild» neu ausrichtet. Die Wahl fiel auf den damals 31-jährigen Daniel Schelling, der an ebenjenem 1. Juli seine Stelle antrat und das Heim noch heute leitet.Was war die grösste Herausforderung, als Sie vor 20AABB22Jahren ins «Bild» kamen?Dem Heim fehlte damals noch die Betriebsbewilligung des Kantons und es gab erst minimale konzeptionelle Grundlagen. Auch die Finanzierung war alles andere als gesichert. Es gab zwar bereits eine erste Schülerwohngruppe mit fünf Kindern, aber nur für zwei von ihnen waren die Beiträge vertraglich geregelt. Man gab mir damals zwei Jahre Zeit, ein Konzept für das Heim zu erarbeiten und die Finanzierung sicherzustellen. Mit meinen 31 Jahren war ich noch jugendlich zuversichtlich und dachte, das würde ich locker hinbekommen – aber es erwies sich als schwerer Lupf.Der Verwaltungsrat der Waisengutsgemeinde war also mutig, das Heim in solch junge Hände zu geben?Das nicht. Ich hatte zuvor schon acht Jahre in Kinderheimen gearbeitet, hatte allerdings noch keine Leitungserfahrung, traute mir diese Aufgabe aber zu. Die Waisengutsverwaltung wiederum hatte eine Vorstellung, wie der Heimbetrieb dereinst aussehen könnte, und ich hatte eine Vision, die dazu passte.Und wie sah die aus?Meine Idealvorstellung war ein Heim wie das Schülerheim in Bern, wo ich länger gearbeitet hatte und wo es mir sehr gefiel. Ich sah dann aber bald, dass sich jenes Heim nicht einfach hierher kopieren lässt. Das «Bild» ist das «Bild». Das Heim neu auszurichten war eine reizvolle Herausforderung, ohne die ich mich vielleicht gar nicht auf die Stelle beworben hätte. Das war mir Antrieb – bescherte mir aber auch manche schlaflose Nacht.Weshalb das?Vor allem wegen finanzieller Sorgen. Der Gedanke, ob wir würden bestehen können, war zuweilen quälend. Und zu Kriseninterventionen wurde ich früher auch immer wieder mitten in der Nacht aufgeboten. Glücklicherweise habe ich eine verständnisvolle Familie – die Arbeit in einem solchen Heim ist kein «Nine-to-five-Job» mit fixen Arbeitszeiten.Hat sich das geändert?In der Häufigkeit der Nachteinsätze schon. Das hängt auch mit unseren langjährigen Mitarbeitern zusammen, von denen mittlerweile viele zertifizierte Traumapädagogen sind. Das gibt dem Team Sicherheit. Es kommt nur noch selten vor, dass ein Kind meine Mitarbeiter an den Anschlag bringt und sie Unterstützung anfordern müssen.Aber es kommt zuweilen vor?Es kommt vor. Viele Kinder im Wohnheim haben traumatische Erfahrungen gemacht. Und die bringen sie natürlich ins Heim mit und legen sie auch über Nacht nicht ab. Wenn man das aber versteht, kann man einer sich daraus ergebenden Krise einfacher begegnen. Deshalb mache ich seit 20 Jahren mit meinen Mitarbeitenden Haltungsarbeit. Und mittlerweile haben wir beim Kanton den Ruf, sehr tragfähig zu sein.Viele Kinderheime sind in den letzten Jahren mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert worden. Nicht so das «Bild». War das Heim so viel besser als alle anderen?Jesses, keine Ahnung! Früher hatte man rauere Erziehungsmethoden. Wohl auch hier. Ich bin froh, ist unser Heim von Skandalen verschont geblieben. Ans «Bild»-Fest kommen gelegentlich Ehemalige. Sie sind froh zu sehen, wie wir das Heim heute führen. Ihnen widme ich gerne etwas mehr Zeit; das ist für sie wichtig – es hilft ihnen, ihre eigene Kindheit zu verarbeiten.Wie viele Kinder waren in den 20 Jahren im «Bild»?In den letzten 20 Jahren lebten 115 Kinder und Jugendliche in den Schülerwohngruppen und der Jugendwohngruppe. In der Tagesbetreuung wurden in dieser Zeit rund 350 Kinder betreut.Von den Kindern, die im «Bild» fremdplatziert worden sind: Waren darunter welche, die ihre ganze Kindheit hier verbracht haben?Das war und ist nicht die Idee. Wenn es nicht anders geht, bieten wir zwar dafür Hand. Aber grundsätzlich arbeiten wir darauf hin, jedes Kind wieder in seiner Familie zu integrieren. Wir beziehen darum wenn immer möglich die Eltern ein. Es ist nicht selten, dass die Eltern eines Kindes drei- bis viermal die Woche bei uns sind, um ihr Kind ins Bett zu bringen. Eine Kesb-Präsidentin (Kesb: Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) meinte einmal, wir pflegten im Vergleich zu anderen Heimen einen radikalen Elterneinbezug.Er ist demnach nicht selbstverständlich?Nicht in dem Ausmass, wie wir es tun. Ich bin aber überzeugt, dass wir damit richtig liegen. Ein Vater und eine Mutter, die sich zunächst massiv gegen die Fremdplatzierung ihres Kindes gewehrt hatten, meinten später, dass sie sich freiwillig für unser Heim entschieden hätten, hätten sie es nur früher gekannt. Das war für mich einer der schönsten Momente, die ich hier erleben durfte. Heute ist jenes Kind wieder bei seinen Eltern und kommt dort gut zugange… Das ist das «Bild»: Unser Herz schlägt für elterliche Präsenz trotz Obhutsentzugs. Unser Ziel ist stets, dass das Kind wieder nach Hause kann.Das gelingt aber wohl nicht immer?Es gibt seltene Situationen, wo selbst wir nicht mehr weiterkommen und nah am Resignieren sind. Das dürfen wir aber nicht. Es ist unsere Aufgabe, eine realistische Hoffnung aufrecht zu erhalten. Ist ein Kind aber gewalttätig, müssen wir die anderen Kinder vor ihm schützen. Dann kann es sein, dass wir einen Ausschluss sprechen und das Kind weitergeben müssen, in ein anderes Heim oder allenfalls in die Kinderpsychiatrie. Das gab es in diesen 20 Jahren aber vielleicht fünfmal.Was werden die Herausforderungen der nächsten Jahre sein?Es gilt weiterhin ein Gespür für die Bedürfnisse der Gesellschaft zu haben und die Finanzierung des Heims sicherzustellen. Wir müssen darauf achten, nicht zu teuer zu werden. Aber ich denke, wir sind auf gutem Weg. Wir haben im Frühling zwar eine dritte Schülerwohngruppe eröffnet und die Gruppengrösse gleichzeitig von sieben auf fünf Kinder reduziert. Trotz kleinerer Gruppen gehören wir aber immer noch zu den günstigsten Heimen.Es wird das Kinder- und Jugendheim Bild also weiterhin brauchen?Es werden heute zwar weniger Kinder in Heimen platziert als früher. Wo eine Fremdplatzierung nötig ist, versucht man die Kinder wenn möglich in einer Familie unterzubringen. Gerade ein Heim wie das unsrige wird es aber auch künftig brauchen: für Kinder mit psychiatrischen Diagnosen. Die traumapädagogische Betreuung, wie wir sie bieten können, wird noch an Bedeutung gewinnen. Was unsern Alltag freilich nicht leichter werden lässt.HinweisMehr zum Kinder- und Jugendheim Bild, das nebst dreier Schülerwohngruppen und einer Jugendwohngruppe auch eine Kinderkrippe und einen Schülerhort führt, auf www.bild-altstaetten.ch

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