17.03.2022

Nötige Investition in die Kinder leisten: Schulsozialarbeit baut aus

Die Jugendarbeit Oberes Rheintal hat die Schulsozialarbeit um mehr als eine Vollzeitstelle aufgestockt. Im Interview erklären Ruedi Gasser, Leiter Jugendarbeit, und Stephan Bleisch, Leiter Team Kids, weshalb der Ausbau dringend angezeigt war.

Von Interview: Benjamin Schmid
aktualisiert am 02.11.2022
Das Ziel der Schulsozialarbeit (SSA) ist es, Kinder und Jugendliche im Prozess des Erwachsenwerdens zu begleiten und sie bei ihrer Lebensbewältigung zu unterstützen. Das geschieht in Beratungen, in denen die Schülerinnen und Schüler die SSA mit einem Anliegen aufsuchen und dann Lösungsschritte erarbeiten. Vorrang haben Krisen beziehungsweise Notfälle. Weiter bietet die SSA Klassen- und Gruppeninterventionen an und beteiligt sich minimal an Schulaktivitäten und Projekten. Ruedi Gasser und Stephan Bleisch von der Jugendarbeit Oberes Rheintal nehmen Stellung zur Aufstockung um 111 Stellenprozent und veranschaulichen, weshalb Heranwachsende, Lehrpersonen und Eltern heute mehr Unterstützung benötigen.Wer nimmt die SSA in Anspruch?Ruedi Gasser: Der erste Kontakt wird etwa zu je einem Drittel von Kindern und Jugendlichen selbstständig beziehungsweise durch Eltern oder Lehrpersonen vorgenommen. Die SSA kann jederzeit von allen Kindern, Jugendlichen und deren Bezugspersonen via Telefon, E-Mail und soziale Medien kontaktiert werden.[caption_left: Ruedi Gasser (Bild: pd)]Wann werden die Dienste in Anspruch genommen?Gasser: Die Gründe sind variantenreich: Die Mutter eines Kindergartenkindes meldet sich wegen ständiger Streitereien auf dem Schulweg; ein Drittklässler zieht sich immer mehr zurück und wirkt im Unterricht abwesend, die Lehrerin bittet die SSA um Hilfe; ein Lehrer hat in seiner fünften Klasse mit Mobbing zu tun und möchte die Situation mit der SSA auflösen. Die Beispiele sind längst nicht vollständig.Haben Sie weitere?Gasser: Ein schichtarbeitender Vater ist verzweifelt mit seinem Sohn, der am liebsten rund um die Uhr gamt und sich nichts mehr sagen lässt; eine Siebtklässlerin wird in der Freizeit auf ihrem Smartphone bedrängt und aufgefordert, erotische Bilder zu verschicken. Sie hat Angst und meldet sich bei uns; eine Oberstufenschülerin meldet sich bei der SSA mit suizidalen Äusserungen; die Lehrerin einer dritten Oberstufe bemerkt zahlreiche Krankheits- und Fehltage ihres Schülers. Sie bittet die SSA um eine Einschätzung. Zusammengefasst: Die SSA ist ein Seismograf unserer Gesellschaft und ist für alle Anliegen von Kindern und Jugendlichen da. Vertraulich, niederschwellig, vor Ort und kostenlos.Welche Themen sind den Schülerinnen und Schülern wichtig?Stephan Bleisch: Die meisten möchten zu Hause, in der Schule und im Freundeskreis ein harmonisches Miteinander. Wie überall, wo zusammengelebt und -gearbeitet wird, gibt es Konflikte. Die Klärung und deren Auflösung gehört in der SSA zum Hauptgeschäft. Im Jugendalter werden auch Fragen und Anliegen zu Liebe, Sex und Co. wichtiger. Die SSA bietet darum sechs Aufklärungslektionen dazu an. Diese entwickelten wir vor Jahren aufgrund zunehmender Teenagerschwangerschaften.[caption_left: Stephan Bleisch (Bild: pd)]Welche Themen sind bei Lehrpersonen präsent?Bleisch: Lehrerinnen und Lehrer kommen mit 1001 Anliegen zu uns. Ein grosses Thema sind Konflikte unter Schülerinnen und Schülern. Auch bei Krisen aller Art sind Lehrpersonen froh um unseren Support. Zunehmend spürbar sind psychische Themen, beispielsweise Jugendliche, die oft krank sind, bis hin zu Schulabsentismus.Wieso wurde die Aufstockung der SSA um 111 Stellenprozente nötig?Gasser: Die Fälle der SSA nahmen deutlich zu. So sind sie in der Primarschule innerhalb von vier Jahren von 106 auf 187 gestiegen. Gemäss kantonalen Vorgaben waren wir bis 2021 massiv unterdotiert im Pensenpool. Um im Leistungsumfang D (A = top, E = minimal) interagieren zu können, war eine Aufstockung nötig.Wie ist diese gelungen?Gasser: Unsere Schulen stellten uns im Rahmen einer Evaluation ein gutes Zeugnis aus und befürworteten alle eine Stellenaufstockung. Unser Führungsausschuss erkannte die Unterdotierung und lancierte mit uns «Pro SSA 22». Die Kesb Rheintal benannte sechs Vorteile einer SSA-Aufstockung. Mit den obigen fünf Punkten stellten wir die SSA und «Pro SSA 22» von März bis Juni 2021 im Stadtrat und den fünf Räten der Partnergemeinden vor. Alle bestätigten die Wichtigkeit der SSA und genehmigten mehr Stellenprozente per 1. Januar 2022.Sieht die SSA Probleme, die vielleicht gar keine sind, und schafft so einen Mehraufwand?Gasser: Die Schulsozialarbeit ermittelt grundsätzlich nicht selbst Aufträge. Auftraggeber sind vorwiegend Lehrpersonen, Eltern und Heranwachsende. Unsere SSA im Oberen Rheintal hat aufgrund des Pensums (Leistungsumfang D) beschränkte Ressourcen und ist daher laufend gefordert, zu priorisieren, und hat nur bedingt Kapazitäten, in der Schulentwicklung mitzuwirken.Brauchen Kinder und Jugendliche heute mehr Unterstützung?Bleisch: Zu dieser Frage könnte man problemlos eine Bachelorarbeit schreiben. Hier kurz unsere Eindrücke: Kinder und Jugendliche brauchen mehr Unterstützung, weil die Welt komplex und voller Möglichkeiten ist. Sie werden bestmöglich unterstützt, um Defizite auszubügeln und Talente zu fördern. Die Kindheit gilt als eine der wichtigsten Phasen im Leben. Gerade weil Eltern auch vielfältig herausgefordert sind, brauchen Kinder liebevolle, verantwortungsbewusste und viel Zeit schenkende Eltern.Wie spürt die SSA diesen höheren Unterstützungsbedarf?Bleisch: Die Heterogenität in den Schulen ist heute im Vergleich zu früher viel grösser. Dies bedeutet, dass Förderbedarf grösser ist, da Kinder aus der ganzen Welt und aus allen gesellschaftlichen, kulturellen sowie religiösen Schichten in der obligatorischen Schule aufeinandertreffen. Weiter wird beispielsweise in Kleinklassen, Time-out- und Talentschulen separiert und inkludiert.Sind die Eltern zunehmend überfordert mit der Erziehung ihrer Kinder?Gasser: Das «Mensch sein» ist in unseren Breitengraden komplex. Kommen dann Kinder hinzu, wird es meist wundervoll, aber auch kompliziert. Die kleinen Wesen haben eigene Bedürfnisse, eine eigene Persönlichkeit und wollen erzogen werden zu eigenständigen Erwachsenen. Die meisten Eltern sind gut unterwegs mit ihrem Nachwuchs und bewältigen den Alltag nach bestem Wissen und Gewissen. Einige sind jedoch überfordert. Diese werden von durch diverse Angebote und die SSA unterstützt.Wie wird sich die Rolle der SSA in Zukunft verändern?Gasser: Unsere Partnergemeinden und die Stadt haben seit 2013 einiges investiert, um auf den zunehmenden Unterstützungsbedarf von Kindern und Jugendlichen, Familien und Schulen im Zuge des sozialen Wandels zu reagieren. Die SSA ist und bleibt eine Reaktion auf die gesellschaftliche Entwicklung im Schulumfeld. Sie ist gefordert, am Puls der Zeit und nahe an den Schülerinnen und Schülern, Lehrpersonen und Eltern zu bleiben.Hinweis: www.jugend-or.ch

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