02.07.2018

«Nicht bis zum Tunnelende warten»

Hunderten schwächeren Schülerinnen und Schülern hat er zu einer Berufsausbildung verholfen. Nach über 42 Jahren geht Beat Eichkorn, Kleinklassenlehrer an der Oberstufe Mittelrheintal, in den Ruhestand.

Von Kurt Latzer
aktualisiert am 03.11.2022
Kurt LatzerSeine erste Stelle hat der 64-jährige Stadtbasler vor über 42 Jahren in der Hilfsschule der Mittelstufe in Heiden angetreten. Ein Jahr später besuchte Beat Eichkorn für zwei Jahre berufsbegleitend das Heilpädagogische Se­minar in Zürich. Nach dem Semi nahm er eine Lehrerstelle im Rheintal an und übersiedelte nach Balgach. Er hat drei erwachsene Kinder, allesamt in sozialpädagogischen Berufen tätig. Ende Schuljahr geht Beat Eichkorn in den Ruhestand. Ein Jahr vor dem offiziellen Rentenalter.Warum sind Sie Lehrer geworden?Beat Eichkorn: Diese Frage habe ich schon oft zu beantworten versucht. In meiner Familie waren fast alle Lehrer oder im Gesundheitswesen tätig. Vielleicht hat das meinen Entscheid mit beeinflusst. Ich wollte mit und für Menschen arbeiten.Wie kam es zur Anstellung im Rheintal?Nach drei Jahren gingen in der Mittelstufe der Sonderschule in Heiden die Schülerzahlen immer mehr zurück. In der Schule unterrichteten bekannte Leute wie die Schriftstellerin Helen Meier, in der Oberstufe Erich Scherrer, der Mann der späteren Ausserrhoder Regierungsrätin Alice Scherrer. Der Mitinitiant des Appenzeller Witzwanderweges, Ruedi Roh­-ner, hatte ebenfalls eine Unterstu­fenklasse. Wegen der sinkenden Schülerzahl hob man die Mittelstufe auf. Ich, als am wenigsten lange Beschäftigter, musste etwas Neues suchen. Als in der Kleinklasse in Balgach eine Stelle frei wurde, kam ich ins Rheintal.Waren Sie immer als Sonderschulpädagoge tätig?Ja, die ganzen 42 Jahre. Wenige Jahre nach meinem Umzug nach Balgach führten die fünf Mittelrheintaler Gemeinden die Kleinlassen in einem Zweckverband, dem ich sogar einmal vorstand. Nach dem Austritt von Diepolds­au und Widnau hob man den Zweckverband auf und integrierte die Kleinklassen in der Oberstufe Mittelrheintal.Im Gespräch spürt man: Die Arbeit macht Ihnen Spass. Warum also die Frühpensionierung?Ich gehe ja nur knapp ein Jahr früher. Ich höre auf, weil ich noch gut beisammen und fit bin. Gottseidank hatte ich nie ein Burn-out wie viele andere Lehrer. Nach 42 Jahren wird man auch müde, Erholungs- und Regenerationsphasen sind länger. Und die Nerven sind auch nicht mehr so stark wie früher. Man sollte nicht erst aufhören am Ende des Tunnels. Man muss ehrlich sein und sagen, jetzt ist genug. Mir ist wichtig, mit meiner Klasse auf einem guten Level abzuschliessen.Haben Kleinklassenschüler dieselben Chancen auf eine Lehre wie vor 15 oder 20 Jahren?Ja, nach wie vor. Entscheidend ist, die Schüler müssen wollen. Wenn ein Schüler den Willen aufbringt, hat er sogar sehr gute Chancen. Denn gerade jetzt sucht man in mehreren Branchen krampfhaft nach Lehrlingen.An welche Lehrberufe denken Sie dabei?Zum Beispiel an Maurer oder eine andere Ausbildung auf dem Bau: Ich bin überzeugt, da hätte ein Schüler innert weniger Tage eine Lehrstelle. Wenn aber Kleinklassenschüler das Gefühl haben, einen Beruf erlernen zu können, in dem sie auf dem Computer herumhacken können, sage ich: «Vergesst es, ihr werdet euer Brot mit einem Handwerk verdienen.»Die Chancen sind also gleich gut wie früher. Auch auf eine drei- oder vierjährige Lehre (EFZ)?Das hat sich im Gegensatz zu früher sehr geändert. Wir haben fast keine Schulabgänger der Kleinklasse, die eine dreijährige, eine EFZ-Ausbildung also, machen. Pro Klasse haben wir vielleicht zwei bis drei Schülerinnen oder Schüler, die eine Volllehre machen. Die Mehrheit absolviert eine zweijährige Lehre mit eidgenössischem Berufsattest (EBA).Was ist der Grund für diese Veränderung?Der Wandel ist darin begründet, dass die Anforderungen in der Berufsschule stark gestiegen sind. Das gilt allerdings auch für EBA-Lehren. Es ist super, wenn sich Schüler von Anfang an für eine zweijährige Berufsausbildung entscheiden und danach weitere zwei Jahre für die EFZ anhängen. Interessant ist auch, dass jene Schüler, die in die Realschule gehen könnten, sich für die Kleinklasse entscheiden. Sie arbeiten lieber eine Stufe tiefer, erzielen gute Ergebnisse und haben ein gesundes Selbstwertgefühl. Stützunterricht als Vorbereitung für die Berufsausbildung gibt es nur bei uns, nicht in der Realschule. Das gebe ich gern den Eltern mit, um ihnen zu zeigen, dass die Kleinklasse eben doch super ist. Das Image der Kleinklasse hat sich im Gegensatz zu früher sehr verbessert.Mit welchem Leistungs­spektrum haben Sie es zu tun?Das ist sehr gross. Die Leistungsstreuung der Schülerinnen und Schüler reicht vom Realschulniveau bis fast zum Niveau der heilpädagogischen Schule. Es ist schon eine Kunst, allen jeden Tag die Portion Stoff zu vermitteln, die der oder die Einzelne braucht.Was bringt Ihren Klassen der neue Lehrplan?Er bringt den Kleinklassen überhaupt nichts. Damit die Schülerinnen und Schüler den nächsten Zyklus erreichen – früher war es Unter-, Mittel- und Oberstufe – müssen sie bestimmte Anforderungen erfüllen. Wir haben auch Schüler, die diese Anforderungen nicht erfüllen: Lehrplan hin oder her. Wir müssen auf den Einzelnen und seine Schwächen eingehen. Der neue Lehrplan an und für sich ist schon gut. Er setzt aber dermassen viel Selbstverantwortung fürs Lernen voraus, die viele aus diversen Gründen nicht erbringen können.Würden Sie noch ein paar Jahre als Lehrer arbeiten, was wünschten Sie sich und den Schülern?Ich wünschte mir, wie etwa bei Schülern in Afrika, das Leuchten in den Augen der Kinder, die ausdrückten: Danke, dass ich in die Schule gehen und etwas lernen darf. Weiter wäre es für einige Kinder gut, es gäbe Tagesschulen wie in grösseren Schweizer Städten wie beispielsweise Basel. Auch ich habe Schüler und Eltern, die mit dem täglichen Kampf ums Lernen und Hausaufgabenmachen total überfordert sind. In Tagesschulen lernen und essen die Kinder, machen betreut ihre Hausaufgaben. Wenn sie um 17 Uhr aus der Schule kommen, ist alles erledigt. Wer weiss, vielleicht gibt es das bei uns im Rheintal innerhalb der nächsten 20 Jahre auch. Ich wünschte es den Kindern. Auch wäre ich froh, wenn die Schülerinnen und Schüler zu Hause die minimalen Anstandsregeln wieder lernen würden, wie guten Tag, auf Wied­ersehen und Danke sagen. Manchmal arbeitete ich fast mehr als Sozialpädagoge.Integration ist ja auch immer wieder ein Thema. Wie gross ist der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund?Bei uns sind das etwa zwei Drittel der Schüler.Viele geraten wegen sprachlicher Probleme schulisch ins Hintertreffen. Was müsste sich da ändern?Integrativ geführte Klassen könnten da sehr helfen. Klassen, in denen das Schwergewicht auf dem Lernen von Deutsch liegt. Das wirkt sich in allen Fächern aus. Danach hätten die Kinder nach der Einschulung in einer Regelklasse bessere Chancen.Was fangen Sie mit der gewonnenen Freizeit an?Ich habe zu viele Interessen, als dass ich in ein Loch zu fallen drohte. Wir haben einen grossen Garten, der mir seit jeher den nötigen Ausgleich bringt – mit Erde zu arbeiten, mich so zu erden. Ich werde auch mehr Zeit haben, Sport zu treiben und zu reisen. Ich fahre Velo, wandere und schwimme – widme mich noch mehr der Literatur und dem Reisen. Führte man eine Integrationsklasse ein, könnte ich mir vorstellen, dort mitzuarbeiten.

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