27.05.2020

Nazis im einstigen Nobelhotel

Das «Schiff» war als «Braunes Haus» verrufen, weil die Rorschacher Hitler-Anhänger sich dort zu Versammlungen trafen.

Von Otmar Elsener
aktualisiert am 03.11.2022
Otmar ElsenerIn Rorschach wird der 8. Mai 1945 überschwänglich in allen Wirtschaften und am Seeufer gefeiert. Trunken vor Freude, befreit von der Angst der Kriegsjahre, ziehen einige Männer am Abend zum Hotel Schiff, steigen zur Terrasse hoch und holen dort die Schweizer Fahne ein. Ihre Begründung: Das «Braune Haus» sei der Schweizer Fahne nicht würdig. Den Schimpfnamen trägt das Haus seit den 1930er-Jahren, weil darin die Reichsdeutschen ihre Versammlungen hielten und zum Beispiel jeweils Hitlers Geburtstag feierten. Das Hotel wurde von der Schweizer Bevölkerung gemieden, und der Betrieb als Hotel und Restaurant ging in den letzten Kriegsjahren zugrunde. Das Hotel mit seinem grossen Saal ist schon in einem Fremdenführer aus dem Jahr 1904 als einer der bedeutendsten Gasthöfe in Rorschach erwähnt. Die farbige Ansichtskarte einige Jahre später sollte Werbung machen. Fotograf, Zeichner und Kolorist haben gemeinsam das stolze «Schiff» und seinen Standort nahe dem Rorschacher Hafen mit der damaligen künstlerischen Freiheit dargestellt, um das Haus möglichst attraktiv anzupreisen. Der festliche Speisesaal auf der Seeseite ist mit Blumen verziert in einem Rechteck eingeschoben. Auf der Dachterrasse flattert die Schweizer Fahne. Im Hintergrund sind Hafenbahnhof und die nördliche Häuserzeile mit dem Federer-Haus versetzt ins Bild retuschiert, um einen weiten Platz vorzutäuschen, den es nie gegeben hat. In den 1920er-Jahren begann der Glanz des Nobelhotels zu verbleichen, doch es behielt seinen guten Ruf als beliebtes Lokal für Unterhaltungsabende, Versammlungen und Vereinsanlässe.Unerwünschte braune Gäste mit HakenkreuzenAb 1935 war es jedoch ein nicht gern gesehener Verein, der sich im «Schiff» breitmachte: Die Rorschacher Nationalsozialisten, die ihren deutschen Nachbarn nacheiferten, irregeleitete Schweizer oder überzeugte Angehörige des Deutschen Reiches, etwa 100 an der Zahl und mitsamt Gauleiter, wählten die Stätte zu ihrem Lokal. Das «Schiff» galt auch als Ort der «Fünften Kolonne», einer erbärmlichen illegalen Organisation, die ihrem Führer Adolf Hitler verpflichtet war und bei einem Einmarsch der Wehrmacht wichtige Spezialaufgaben übernommen hätte. Das Wirte-Ehepaar zu jener Zeit war deutschfreundlich, besonders die Frau scheint die treibende Kraft gewesen zu sein. So marschierten sie denn also auf, mit braunen Uniformen, Fahnen und Wimpeln, demonstrativ, breitschrötig, sangen ihre Lieder, huldigten dem Führerkult, besonders am 20. April, Hitlers Geburtstag. Zeitzeugen erinnerten sich, wie im Saal ein Bild von Adolf Hitler prangte und wie man die Fröntler und Hitlerverehrer von der Strasse aus beobachten konnte. Sie sassen, das Hakenkreuz auf der Binde am Ellbogen, bewusst so platziert, dass man das Kreuz sah. Der Stadtrat war sich der subversiven Tätigkeit dieser Leute bewusst. Stadtammann Karl Rothenhäusler schrieb im April 1940 dem Kantonalen Polizeidepartement: «Wir haben den Standpunkt, dass ein fremder Staat die Souveränitätsrechte eines anderen Staats berührt, wenn er seine dort wohnenden Staatsbürger in einer Art und Weise organisiert, dass sie einen Staat im Staate bilden. Wenn die Deutschen auf solche Art bei uns beeinflusst werden, ist es gar nicht mehr möglich, dass sie in unserem Land assimiliert werden können.»Erwachsenen und Kindern missfiel das prahlerische Getue Obwohl in Rorschach viele deutsche Einwanderer aus den Boomjahren der Stickereiindustrie lebten, entstand in der Bevölkerung in den Jahren vor dem Kriegsausbruch eine deutschfeindliche Stimmung. Der Unmut verstärkte sich mit der deutschen Propaganda für ein 1000-jähriges Reich. Es kam immer wieder zu Vorfällen aller Art. So an einem Erst-August-Abend, als einige Nazi-Sympathisanten eine SS-Fahne aufziehen wollten, aber dann von kräftigen Turnern des Stadtturnvereins gepackt und in den See geworfen wurden. Sogar Kinder zeigten ihr Missfallen, denn Hitler, Mussolini und Stalin waren Namen, die sie am Familientisch hörten. Kinder von Reichsdeutschen zeigten im Pestalozzischulhaus auf die Muskeln in ihren Armen: «Das kommt vom deutschen Blut.» Prompt wurden die Prahler auf dem Schulweg und in der Pause von schweizerischen Mitschülern verprügelt. Die Schule musste reagieren: Die deutschen Schüler mussten später in die Schule kommen und früher gehen und blieben in den Pausen in den Schulzimmern. Wenn sich an Sonntagnachmittagen die Hitlerjugend im «Schiff» traf, riefen Rorschacher Jugendliche in den Saal: «Geht hinaus zu Adolf, der wartet auf euch», worauf ihnen gedroht wurde: «Ihr seid dann die ersten fürs Konzentrationslager in Diepoldsau.» Nicht alle Auslandsdeutschen in der Region waren Anhänger der Nazis, doch manche fühlten sich verpflichtet ins «Schiff» zu Anlässen zu gehen, weil sie fürchteten, bei einer Eroberung der Schweiz durch Hitlers Armee wegen Abseitsstehen bestraft zu werden. Die Feindseligkeit gegenüber den Deutschen schlug andererseits bei den Schweizern in Angst um, als die deutsche Wehrmacht bis 1942 alle Länder rings um die Schweiz besetzt hatte und Hitler auf der Höhe seiner Macht stand. Das Treiben der Braunen musste man dulden, das Hotel-Restaurant hingegen wurde von den Schweizern gemieden. Ein Beispiel: Der Lehrer Alfred Kuratle schreibt in der Broschüre «100 Jahre Helvetia Rorschach»: «Der Männerchor probte lange im ‹Schiff› bis überm See drüben die Geister einen Krieg anzettelten und die Schweizer schon erledigt zu haben wähnten. Der schlaue Hotelier hoffte, durch sein Liebäugeln mit ihnen einer goldenen Zukunft sicher zu werden. Uns aber passte die Sache nicht, und wir sagten Lebewohl.» Kaum jemand ging mehr ins «Schiff», das nur noch das «Braune Haus» genannt wurde. Angesichts der verlorenen Schlacht von Stalingrad, der Bombardierungen von Friedrichshafen und dem Zusammenbruch des 1000-jährigen Reichs verstummte die Arroganz der Rorschacher Nationalsozialisten. Mit dem «Schiff» ging es bachab – und noch vor Kriegsende gingen Hotel und Restaurant ein. An Häusern Hakenkreuze in den Verputz gekratztAls die Gräueltaten der Wehrmacht, der SS und der Gestapo bekannt wurden, entlud sich der Groll über die Nazi-Sympathisanten. Noch mehr erzürnten gefundene Pläne, was nach einer Eroberung durch die Hitler Armee bei uns alles geschehen wäre, z. B. dass das Institut Stella Maris als Auffanglager für Deportationen vorgesehen war. An den Häusern der in der Stadt bekannten Nazis wurden Hakenkreuze aufgemalt oder in den Verputz gekratzt. Hunderte von Nationalsozialisten in der ganzen Schweiz, die das Gastrecht missbraucht hatten, wurden ausgewiesen: Aus dem Kanton St. Gallen 47, aus der Stadt St. Gallen dreizehn und aus Rorschach vier. Die Verbitterung bekamen leider auch Deutsche zu spüren, die sich nie für das Dritte Reich erwärmt hatten.Das Hotel Schiff erlebte – Ironie der Geschichte – eine moralische Rehabilitierung. Es bot als Rückwanderer-Heim ab Mai 1945 Unterkunft für mittellose Auslandschweizer Familien, die aus der russisch besetzten Zone Deutschlands heimgekehrt waren. Sie wohnten hier teils monatelang, bis sie in der Schweiz Arbeit fanden. Ihre Kinder besuchten die Rorschacher Schulen. Weil sie, aufgewachsen in Deutschland hochdeutsch sprachen, ergaben sich nur selten gute Kontakte mit ihren Mitschülern. Später zogen Italienerinnen ein, die in den Fabriken der Roco und Feldmühle arbeiteten. Einige Jahre lang mietete die Stadt das Haus für Notwohnungen. Zuletzt nutzte es das Warenhaus Oscar Weber als Lagerhaus. Beide Häuser wurden 1983 abgerissen. Und tatsächlich wurde kurz vor dem Abbruch hinter der einstigen Saalbühne eine zusammengerollte deutsche Fahne mit Hakenkreuz gefunden. Heute steht dort das Hafenzentrum mit Hotel Mozart und UBS.

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