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Bob 27.01.2024

Nach Julie Leuenbergers erster Bobfahrt sagte ihr Vater: «Ich habe noch nie jemanden so strahlen sehen»

Julie Leuenberger ist seit dieser Saison Bob-Anschieberin. An ihren ersten Weltmeisterschaften gewann die Berneckerin bereits zwei Medaillen.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 11.12.2024

Im Februar letzten Jahres fuhr Julie Leuenberger erstmals auf dem Rücksitz der Juniorenpilotin Debora Annen den Cresta-­Bobrun in St. Moritz runter. Das Bild, das die 17-jährige Berneckerin im Ziel abgab als sie den Helm auszog, kommentierte ihr Vater Mike Leuenberger so: «Ich habe noch nie jemanden so strahlen sehen.»

Vor dem Start habe sie ein bisschen Bammel gehabt:

Aber er ist während der Fahrt verflogen; es machte einfach Spass, in horrendem Tempo den Eiska­nal runter zu flitzen

Auch die Harmonie mit ihrer künftigen Teamchefin war sofort hergestellt. Im kommenden Sommer fuhr Leuenberger an jedem Dienstagmittag fürs Training mit dem Zug nach Sihlbrugg, dem Wohnort von Debora Annen. Drei Stunden Hinweg, drei Stunden Rückweg für zwei Stunden Training unter der Leitung des früheren Bobfahrers Dominik Scherrer. Dazu trainierte sie auf den Anschiebe-Bahnen in Andermatt und Filzbach. Auch deshalb brennt Julie Leuenberger darauf, im kommenden Mai, in dem sie 18-jährig wird, so schnell wie möglich die Autoprüfung abzulegen.

Aufbruch zu einer grossen Tat: Start des Bobteams Annen.
Aufbruch zu einer grossen Tat: Start des Bobteams Annen.
Bild: Olympia Bob Run

Den Reisestrapazen zum Trotz: Bevor der Winter begann, war absehbar, dass Julie Leuenberger zum Bobteam von Debora Annen gehört, der talentierten Tochter des früheren Olympia-Medaillengewinners Martin Annen.

Harmonie vom ersten Moment an: Die WM-Medaillengewinnerinnen Julie Leuenberger und Debora Annen.
Harmonie vom ersten Moment an: Die WM-Medaillengewinnerinnen Julie Leuenberger und Debora Annen.
Bild: pd

Bis dahin war Julie Leuenberger eine auf nationaler Ebene erfolgreiche Nachwuchsleichtathletin. In der Altersklasse W14 hatte sie den heute als Visana-­Sprint bekannten Wettkampf gewonnen, eine von Swiss Athletics organisierte Meisterschaft mit Ausscheidungen und Finals mit dem Stellenwert einer Schweizer Meisterschaft für Athletinnen und Athleten unter der Altersklasse U16.

In dieser Kategorie gewann Leuenberger an ihrer ersten richtigen Schweizer Meisterschaft die Silbermedaille im Sprint, und im Kugelstossen holte sie eine Bronzemedaille. Sie sagt: «Sprint und Kugel sind meine besten Disziplinen, aber ich war Mehrkämpferin.»

Im Sommer 2023, als das Bob-Training mehr Platz einnahm, beschränkte sie sich bereits auf  ihre Kerndisziplinen. Wie es in der Leichtathletik weitergeht nach diesem Winter, weiss sie noch nicht genau: «Zuerst werde ich sicher mal Pause machen, dann schauen wir weiter. Sicher ist, dass ich an zwei, drei Wettkämpfen antreten werde.»

Leuenbergers Hobbys sind Skifahren – dazu kam sie diesen Winter aber noch nicht – und Windsurfen. Seit ihrer frühesten Kindheit ist sie sportlich sehr aktiv und war im Fussball, im Tanzen und im Boxen. Leichtathletik war aber ihre Leidenschaft seit in der Jugi des STV Berneck ihr Talent entdeckt wurde. Über die Leichtathletikriege des STV Au wechselte sie vor ein paar Jahren zum LC Brühl.

Der Wechsel in den Eiskanal katapultierte die Kantonsschülerin der Sportschule Appenzellerland auf Anhieb von der nationalen an die internationale Spitze. Bereits im ersten Europacuprennen in Lillehammer fuhr Debora Annen mit Anschieberin Julie Leuenberger auf die Plätze zwei und drei:

Darüber waren wir selbst überrascht, denn auch für Debora war es der erste Eu­ropacup, obschon sie schon seit einigen Jahren Monobob fährt.

Auf der wegen des Kreisels von vielen gefürchteten Bahn in Altenberg, die noch zu DDR-Zeiten gebaut wurde, fanden sich Annen und Leuenberger ebenfalls prima zurecht. «Altenberg gefiel mir sehr gut, aber vorher in Lillehammer hatte ich zuerst doch etwas Angst.»

Zuerst die Disqualifikation, dann der Medaillenregen

Den ersten und bisher einzigen Rückschlag gab’s im Europacup auf der Heimbahn in St. Moritz: Das Team Annen wurde disqualifiziert, weil es versäumt hatte, die Startfreigabe abzuwarten. Ein «Lehrblätz» für die beiden jungen Fahrerinnen – und auch eine Lehre für die Betreuerinnen und Betreuer am Start, achtsamer zu sein. Verunsichern liessen sich die Sportlerinnen und Sportler durch diesen Lapsus indes nicht: Am nächsten Tag wurde Debora Annen Junioren-Weltmeisterin mit dem Monobob:

Das war eine grossartige Leistung meiner Teamkollegin.

Und noch einen Tag später komplettierten Annen/Leuenberger den WM-Medaillensatz fürs Team: Im Zweierbob der ­Juniorinnen erreichten die beiden den dritten Platz. Nebst der bronzenen Medaille für diesen Erfolg gab’s obendrauf noch die silberne in der U23-Wertung. Was merkwürdig klingt, folgt durchaus einer Logik: Im Bobsport kann man bei den Juniorinnen bzw. Junioren fahren, bis das 26. Altersjahr erreicht ist. Die Juniorinnen-WM ist also im Prinzip eine U26-WM. Daher erstaunt es nicht, wenn Julie Leuenberger sagt:

Ich bin eine der Jüngsten, wenn nicht gar die Jüngste im Europacup.

Dass ihre Leichtathletik-Leidenschaft in eine Bobkarriere mündet, war für Julie Leuenberger lange nicht absehbar. Ihr Trainer beim LC Brühl habe zwar oft im Scherz gesagt: «Aus dir machen wir mal eine Anschieberin.» Aber das war nur eine Anspielung auf ihre häu­figen Verletzungen. Besonders anfällig scheint ihr Hamstring zu sein: Mehrmals hatte Leuenberger Faserrisse in den drei Muskeln an der Rückseite des Oberschenkels. Auch der Rücken zwickt hie und da, gerade auch im Bob, wo in den Kurven ein Mehrfaches ihres Körpergewichts auf sie einwirkt. Hilfreich sei, dass sie von Swiss Sliding medizinisch gut betreut werde: «Wir werden sehr gut geschützt, als meine Team- und Zimmerkollegin im Europacup kränkelte, wurden wir sofort in Einzelzimmer verlegt.»

Die erste Anfrage kam von den Österreichern

Den ersten Kontakt zur Bobwelt stellte der österreichische Verband mit Julie Leuenberger her:

Ich wurde gefragt, ob ich im Eiskanal für Österreich starte.

Das wäre ausser an Olympischen Spielen möglich, obschon Leuenberger nur den Schweizer Pass besitzt. Dennoch antwortete sie: «Das kann ich mir schon vorstellen, aber nur für die Schweiz.» Irgendwie kam dies dem Trainer von Debora Annen zu Ohren, und so kam tatsächlich bald die Anfrage aus der Schweiz. Ihre Zusage hat sie nicht bereut, obschon die Kälte im Eiskanal – gerade im Engadin – für die Leichtathletin gewöhnungsbedürftig ist.

Die Trainer im Eiskanal sagten oft:

Irgendwann wird aus jeder jungen Anschieberin eine Pilotin.

Diesen Schritt kann sich Julie Leuenberger indes (noch) nicht vorstellen: «Mir ­gefällt’s als Anschieberin – und weshalb soll ich selbst steuern, wenn ich eine so hervorragend Pilotin habe?»

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