23.01.2019

Mut zu modernen Liedern

Das neue Jahr fing für die Kirchenchöre schlecht an. In Marbach und in Rheineck wurden sie aufgelöst. Aber nicht alle Chöre in der Region leiden unter Mitgliederschwund und Nachwuchsproblemen.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Die Zeiten, in denen sich das halbe Dorf in Vereinen engagierte, gehören der Vergangenheit an. Immer weniger Menschen wollen sich an einen Verein binden und Woche für Woche Zeit und Energie spenden. Die Fülle von Freizeitangeboten erleichtert die Entscheidung: anstatt Chorprobe DSDS, anstatt Turnverein Fitnessklub, anstatt Instrumentalunterricht Guitar Hero. Und dennoch ist Schwarzmalerei unangebracht.Sowohl Kirchverwaltungspräsident Kurt Sieber als auch Roland Stillhard, Leiter Musik im Zentrum, unterstreichen die Wichtigkeit des gemeinsamen Singens in unserer Gesellschaft: «Gesungen wird auch noch in Zukunft», sagt Sieber, während für Stillhard das Singen weiterhin einen hohen Stellenwert bei der Bevölkerung einnimmt.Alternative Chöre rücken in den FokusDie Gründe für den Mitgliederschwund und die Überalterung der Chöre sind vielschichtig. Marcus Camenisch, Präsident Männerchor Diepoldsau-Schmitter, sieht die Gründe in veränderten Freizeitaktivitäten und im Stress im Beruf. Für Claudia Sgier, Präsidentin Gemischter Chor Eichberg, ist die fehlende Lust, sich wöchentlich zu verpflichten, ein Hauptgrund für sinkende Mitgliederzahlen.«Viele Männer und Frauen können oder wollen sich nicht mehr permanent engagieren», sagt auch Eugen Süess, Präsident Chorvereinigung Rheintal. Es sei schwierig, Leute für ein gemeinnütziges, verbindliches Vereinsleben zu mobilisieren, ist sich Kurt Sieber sicher: «Daher boomen Projektchöre.»Thomas Halter, Präsident Kirchenmusikverband Bistum St. Gallen, glaubt, dass es viele Chöre verpasst haben, rechtzeitig Nachwuchs anzuwerben, weil keine Not im Chor bestand. «Schliesslich ist die Entwicklung in den Kirchenchören ähnlich der beim Gottesdienstbesuch – sie nimmt ab.» Das Problem der Überalterung der Chöre bestehe schon seit langem, weiss Karl Hardegger, Chorleiter Kantichor Heerbrugg. «Der Kirchgang ist nicht mehr so ‹in›, daher leidet auch das Interesse für die Dinge rund um die Kirche», sagt er. Dem pflichtet Thomas Lenherr, Präsident Gospelchor RhyThal bei: «Gospel wird mit der Kirche verbunden und die ist bei jüngeren Personen nicht populär.» Diese ablehnende Haltung zur Kirche führe laut Roland Stillhard dazu, dass alternative Chöre in den Fokus rücken.Mut zu neuer ChorliteraturDie Mehrheit der Chorleiter führt den Mitgliederschwund auf veränderte Bedingungen in der Alltagsgestaltung zurück. «Es ist harte Knochenarbeit, mögliche Sängerinnen und Sänger durch persönliche Gespräche für dieses Hobby zu begeistern», heisst es übereinstimmend.Weil der Kirchenchor primär nicht unterhalten, sondern die Messen und Gottesdienste unterstützen soll, sei er im Nachteil gegenüber weltlichen Chören. Es brauche deshalb weniger Proben und mehr lustbetonte Phasen, weniger liturgische, dafür mehr moderne, fremdsprachige Lieder.«Es muss nicht immer eine Messkomposition von Haydn oder Mozart im Gottesdienst sein», sagt Thomas Halter, «Chöre, die Probleme haben, müssen davon abkommen zu denken, dass nur ein bestimmtes Repertoire ‹wahre Kirchenmusik› sei.» Und weiter: «Ein Chor muss mit neuen, modernen Liedern auftrumpfen.»Claudia Bruhin, Präsidentin des Gospelchors «singing4you», kennt keinen Mitgliederschwund. Man müsse mit der Zeit gehen, moderne Lieder auf einem tollen Level vortragen. «Klassische Chormusik hat einen schweren Stand», sagt Karl Hardegger, «viele Chöre geben sich Mühe und möchten sich neu ausrichten, indem sie moderne Literatur einbauen.» Nebst dem musikalischen Aspekt spiele der soziale Aspekt eine grosse Rolle, ist sich Claudia Sgier sicher: «Ein gut funktionierender Chor soll Spass machen.»Menschen mit Musik begeistern«Zu musizieren und zu singen ist sowohl für Kinder als auch Erwachsene ein Bedürfnis», sagt Roland Stillhard – und keiner widerspricht ihm. Chöre gehören nach wie vor in unsere Gesellschaft und sind eine Bereicherung der Kulturlandschaft, ist Kurt Sieber überzeugt. Für Thomas Halter ist Singen ein Grundbedürfnis des Menschen, deshalb sieht er für das Chorwesen nicht schwarz. «Chöre bieten viel an persönlichen Erlebnissen und Emotionen», sagt er und ergänzt: «Selbst wer von sich sagt, er könne nicht singen, tut es beim Fussballmatch mit den anderen Fans trotzdem.»Auch Claudia Bruhin ist guter Dinge, was ihre Zukunft angeht. Ihr Ziel sei nicht weltbewegend: Ein bis zwei junge Sänger finden, die mit Spass und Freude mitwirken. Claudia Sgier und der gemischte Chor Eichberg sehen in einem aufgeschlossenen Chorleiter den Schlüssel zum Erfolg. Dieser habe Mut zu modernen und fremdsprachigen Liedern, setze Chorliteratur aus verschiedenen Stilrichtungen um und lasse die Mitglieder bei der Liedauswahl mitbestimmen. Der Präsident der Chorvereinigung Rheintal bezeichnet es als Zufall, dass sich jetzt zwei Kirchenchöre fast gleichzeitig aufgelöst haben:Keiner der Befragten wusste ein Patentrezept für die Probleme der Chöre. Einige sehen in Fusionen eine gute Möglichkeit für den Fortbestand von Chören, andere halten wenig davon.In einem Punkt sind sich jedoch alle Befragten einig: Sie wollen weiterhin mit ihrer Musik die Zuhörerinnen und Zuhörer begeistern.

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