28.04.2021

«Muss ich, oder lass ich es besser?»

Die Pfarrerin Andrea Hofacker stellt eine zunehmende Pandemiemüdigkeit fest, unter der die Solidarität leidet.

Von Reto Wälter
aktualisiert am 03.11.2022
Andrea Hofacker ist seit sieben Jahren Pfarrerin in Marbach. Seit der Fusion zur Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Rebstein-Marbach 2015 gibt es einen gemeinsamen Gottesdienstplan. An einem Sonntag führt die 47-Jährige in der Kirche in Marbach durch den Gottesdienst, am anderen ihr Amtskollege, Pfarrer Renato Tolfo, in Rebstein.Erste WelleEinschneidend war, dass keine Gottesdienste mehr abgehalten werden durften. «Wie in anderen Kirchgemeinden kam die Frage auf, ob wir ein digitales Angebot zur Verfügung stellen sollen. Wir entschieden uns dagegen, weil wir über Youtube viele Senioren nicht erreicht hätten, die in den Gottesdienst kommen», sagt Andrea Hofacker. «Wir lancierten andere Aktionen, verschickten etwa persönliche, handgeschriebene Osterkarten oder hängten in den Kirchen Segenskärtchen auf, die Besucher mitnehmen durften – die Kirchen blieben ja während der ganzen Zeit offen.»Dieses Angebot wurde sehr gut genutzt. Die Pfarrerin: «Wir fragten uns damals auch, ob es in so einer Situation nicht sogar unsere Pflicht ist, Alleinstehenden und Älteren praktische Hilfe anzubieten, wie etwa Einkäufe zu organisieren.» Sie stellte fest, dass die Leute sehr solidarisch miteinander umgingen, Nachbarn oder Verwandte von Beginn weg zur Stelle waren und halfen, wo es nötig war. Die katholische Bischofskonferenz stellte dann den Bundesrat unter Druck, damit an Pfingsten, dem dritthöchsten christlichen Feiertag nach Weihnachten und Ostern, wieder öffentliche Gottesdienste gefeiert werden dürften. Für die Pfarrerin etwas unerwartet, wurde dem stattgegeben.Mit nur etwa einer Woche Vorlaufzeit entschieden Hofacker und Tolfo spontan, in der Kirchgemeinde Rebstein-Marbach, einen Gottesdienst zu organisieren: «Das war dann doch recht streng, da wir in dieser kurzen Zeit ein Schutzkonzept zu erstellen hatten, und es viel zu organisieren gab, obwohl nur 50 Personen pro Predigt zugelassen waren.»Die Pfarrerin sagt im Rückblick: «Es hat sich aber gelohnt und wir hatten auch viele Besucher aus anderen Dörfern, in denen noch keine Gottesdienste angeboten wurden.» Abschliessend sagt Andrea Hofacker über die erste Welle, es habe glücklicherweise kaum Todesfälle von Kirchgemeindemitgliedern zu beklagen gegeben.Zwischenzeit«Wir verschoben die Konfirmation von Juni auf August und feierten dann mit zwei Gottesdiensten», sagt Andrea Hofacker. So konnten vier und das zweite Mal fünf Konfirmanden trotz der Obergrenze von 50 Personen ihre ihnen wichtigsten Angehörigen einladen – und niemand musste mit einem schlechten Gefühl in die Kirche kommen. Da auch die Schule wieder aufging, wurde sogar noch der Konfirmandenunterricht einige Male «live» abgehalten. Gottesdienste und Abdankungen fanden während den Sommermonaten schon wieder fast unter normalen Umständen statt.Zweite WelleIm September kam die Maskenpflicht. Bei stetig steigenden Fallzahlen stellte sich der Pfarrerin eine Frage, die bis heute nicht beantwortet ist und die, wie sie findet, in kirchlichen Kreisen nachbearbeitet werden sollte: Ist es sinnvoll, die Freiheiten, die der Staat gewährt, auch voll auszunutzen? Anders ausgedrückt: Muss man zwingend machen, was man darf? Schliesst man damit nicht Menschen aus, die ein Bedürfnis nach einem kirchlichen Angebot haben, sich aber nicht trauen, es im angebotenen Rahmen wahrzunehmen, weil die Situation unklar und unsicher ist? Setzt man Menschen damit sogar unter Druck, mit einem unguten Gefühl oder gar mit Angst an einem Anlass teilzunehmen?«Ich hatte diesen Eindruck öfters, auch wenn dies innerkirchlich wenig angesprochen wurde. Wenn man von uns aus etwa auf einen Gottesdienst verzichten würde, könnten diese Menschen beruhigt zu Hause bleiben», sagt Hofacker.Sie erklärt: «Das Dilemma ist, dass das Christentum und auch der Islam, wie er hier praktiziert wird, vom persönlichen Kontakt getragen werden. Bei einem Todesfall Trost zu spenden, ist etwas zutiefst Persönliches. Kann man das nicht mehr machen, ist das für uns schwer zu akzeptieren, auch wenn der Schutz des Lebens natürlich den höchsten Stellenwert hat.»Sie und ihr Pfarrkollege Renato Tolfo hätten sich oft gefragt: «Muss ich, oder lass ich es besser?» In dieser neuen Situation seien andere theologische Konzepte gefragt. Es sei schwierig, die Menschen auf eine gute Art abzuholen. «Ich habe zwar keine Lösung parat , wünsche mir aber eine Diskussion darüber», sagt Andrea Hofacker.Die Verlagerung in die digitale Welt ist für sie kein guter Ersatz. Damit die Gläubigen, trotz der Obergrenze von 50 Personen, die Möglichkeit hatten, Weihnachten mit einem Festtagsgottesdienst zu feiern, wurden mehr Gottesdienste als sonst angeboten. Die steigenden Fallzahlen trugen wohl dazu bei, dass diese nicht zu stark besucht waren. Im Januar häuften sich die Todesfälle, besonders auch, weil der Virus im Altersheim Geserhus um sich griff. In beiden Dörfern verstarben rund 25 Menschen, die der Kirchgemeinde verbunden waren. «Das war die schlimmste Zeit», sagt die Pfarrerin. «Wenn bekannte Persönlichkeiten verstarben, hätte ich die Abdankung normalerweise in der grösseren katholischen Kirche abgehalten. Auch dann hätten die Dorfbewohner wahrscheinlich bis auf den Kirchenplatz gestanden.»Die personelle Obergrenze verhinderte, dass sich die Menschen gebührend verabschieden konnten. «Für die Angehörigen war es zusätzlich belastend, wenn sie etwa bestimmen mussten, das nur ein Vertreter jedes Vereins kommen darf», sagt Hofacker. Zudem sei es Teil des Trauerprozesses, dass er von Bekannten mitgetragen werde. «Wenn das Umfeld Anteil nehmen kann, findet der Trauernde besser ins Leben zurück», erklärt die Theologin.AusblickZurzeit stellt Andrea Hofacker bei den Menschen eine zunehmende Ermüdung im Zusammenhang mit der Pandemiesituation fest, worunter auch die Solidarität leidet: «Die einen wollen einfach ihre Freiheit zurück und benehmen sich eher nachlässig, was die Massnahmen betrifft. Die anderen, meist solche, die Verläufe von schweren Fälle in ihrem Umfeld mitbekamen, sind sehr vorsichtig und interpretieren die jetzige Situation anders.» In den Impfungen sieht Hofacker den einzigen Weg aus der Pandemie heraus. Sie hofft, dass dies der Fall ist, bevor Mutationen um sich greifen können und wünscht sich, dass deshalb weiterhin viel getestet wird.«Immerhin entspannt das Wetter die Situation. Es hilft, dass die Menschen nach draussen können. Die Öffnung der Terrassen ist gerade für Städter wichtig, die von der Wohnsituation her oftmals wenig Möglichkeiten haben, ins Freie zu kommen», sagt sie. Andrea Hofacker freut sich auf ein Ende der Maskenpflicht. «Zwischenmenschlich ist es wichtig, die Mimik des Gegenübers lesen zu können. Der Mensch reagiert am stärksten auf die Körpersprache.»Sie erzählt, Primarlehrerinnen, die Erst- und Zweitklässler unterrichten, hätten ihr gesagt, es sei mit der Maske sehr schwer, einen persönlichen Draht zu den Kindern aufzubauen. Auch sie selber stellte fest, dass sie für das gegenseitige Verständnis bei Trauergesprächen und Abdankungen, viel mehr fragen und viel stärker mit der Stimme arbeiten muss. Pfarrerin Andrea Hofacker sagt: «Nähe gehört zum Menschsein. Wenn die Gefahr vorüber ist, müssen wir das Gefühl dafür wohl erst wieder aufbauen. Es ist wichtig, dass man einst wieder ohne Angst leben kann.»

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