30.05.2022

Mobilfunkbetreiber umgehen Gemeinden

Krach um den Ausbau des 5G-Netzes im Kanton St. Gallen: Die Regierung kritisiert die Mobilfunkbetreiber scharf – die Branche wehrt sich.

Von Adrian Vögele
aktualisiert am 02.11.2022
Fast alle haben gern guten Handyempfang. Nur die Antennen, die sind nicht gern gesehen. Vor allem der Ausbau des neuen 5G-Netzes ist umstritten. Schweizweit sind Tausende von Bauverfahren für neue Antennen blockiert. Und auch bei der Anpassung bestehender Antennen an die neue Technologie herrscht ein Chaos, wie das Beispiel des Kantons St. Gallen zeigt.Anfang Jahr schlugen die SP-Kantonsrätinnen Katrin Schulthess und Karin Hasler in einer Anfrage an die Regierung Alarm: «Ab dem 1. Januar 2022 wollen die Betreiber mit den bewilligten Antennen mit bis zu zehnfacher Leistung senden, auch wenn die Gemeinden dies gar nicht erlaubt haben!» Die Gemeindeautonomie sei in Gefahr.Es geht hierbei um sogenannte adaptive Antennen: Wie der Bund schreibt, können sie die Strahlung genau dorthin fokussieren, wo sich das verbundene Mobiltelefon befindet – darum liegt die Strahlenbelastung in ihrer Umgebung im Durchschnitt tiefer als bei konventionellen Antennen. Bei adaptiven Antennen darf deshalb ein Korrekturfaktor angewendet werden, der es erlaubt, die bewilligte maximale Sendeleistung zu überschreiten. Dies jedoch nur kurzzeitig. Über eine Zeitspanne von sechs Minuten muss die für die Berechnung verwendete Sendeleistung im Mittel eingehalten werden. Die adaptiven Antennen müssen hierzu mit einer automatischen Begrenzung ausgerüstet sein. Der Korrekturfaktor soll sicherstellen, dass die adaptiven Antennen nicht strenger beurteilt werden als die konventionellen Antennen.«Meldung an die Gemeinden unterlassen»Tatsächlich lief bei der Umstellung auf diese Betriebsart im Kanton St. Gallen einiges schief, wie die Regierung in ihrer Antwort auf den SP-Vorstoss festhält. Die Telekomfirmen würden aus den Vorgaben des Bundes ableiten, dass für die Anwendung des Korrekturfaktors keine Baubewilligung nötig sei. «Die Mobilfunkbetreiber verkennen dabei, dass für die Frage der Anwendung des Baurechts nicht Umwelt-, sondern Raumplanungsrecht massgebend ist.»Mehr noch: Jede Änderung einer Mobilfunkanlage muss der Gemeinde mit einem Datenblatt gemeldet werden. Das funktioniert aus Sicht der Regierung aber überhaupt nicht. Sie schreibt: «Im August und September 2021 haben die Mobilfunkbetreiber auch im Kanton St. Gallen zahlreiche Mobilfunkanlagen mit adaptiven Antennen eigenmächtig auf Betrieb mit Korrekturfaktor umgestellt. Sie unterliessen es zudem grossenteils, die angepassten Standortdatenblätter den betreffenden Gemeinden zuzustellen.»Umstellung ist nun vielerorts verbotenEine Nachforschung des St. Galler Amts für Umwelt ergab, dass 78 Anlagen in 35 Gemeinden betroffen waren. Das Amt habe die Gemeinden sofort darüber informiert, schreibt die Regierung weiter. Auch verteilte es eine Musterverfügung an die Gemeinden, um die Telekomfirmen zu verpflichten, den Antennenbetrieb mit Korrekturfaktor wieder rückgängig zu machen. Etliche Gemeinden hätten nun den Mobilfunkbetreibern die Einführung von Korrekturfaktoren ausserhalb eines ordentlichen Baubewilligungsverfahrens untersagt, bis die Rechtslage durch einen höchstrichterlichen Entscheid geklärt werde, so die Regierung. In der Stadt St. Gallen habe die Swisscom gegen die Verfügung geklagt – ohne Erfolg. «Die unterlegene Swisscom zog diesen Entscheid nicht ans Bundesgericht weiter, sodass die Frage der Baubewilligungspflicht nicht mit gesamtschweizerischer Wirkung entschieden wird.» Allerdings sei eine weitere gleichlautende Verfügung der Stadt St. Gallen gegen Sunrise noch hängig.«Gerichte werden wohl entscheiden»Was sagen Swisscom und Sunrise zu dieser ganzen Angelegenheit – insbesondere zum Vorwurf, sie hätten die Antennen eigenmächtig umgestellt, ohne die Gemeinden ausreichend zu informieren? Auf Anfrage wird an den Schweizerischen Verband der Telekommunikation (Asut) verwiesen – da das Thema die gesamte Branche betreffe.Asut-Geschäftsführer Christian Grasser schreibt, im Februar 2021 habe das Bundesamt für Umwelt festgelegt, dass die Aktivierung des Korrekturfaktors an bereits bestehenden adaptiven Antennen nicht als Änderung gemäss der Bundesverordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) gelte. «Die Mobilfunkbetreiber haben sich auf diese Regelung verlassen und schweizweit Korrekturfaktoren an den bestehenden adaptiven Antennen aktiviert.» Per 1. Januar 2022 habe der Bundesrat diese Regelung auch im Bundesrecht – also in der NISV – festgelegt. Aus Sicht der Telekombranche sei es daher zulässig, an bereits bestehenden Anlagen die adaptiven Antennen zu aktivieren. «Der St. Galler Regierungsrat schätzt die Situation anders ein, wie die Antwort auf die Anfrage zeigt, und letztlich werden wohl die Gerichte entscheiden müssen.» Grasser schreibt weiter:«Es ist bedauerlich, dass drei Jahre nach dem 5G-Startschuss durch den Bund die Rechtsgrundlagen für den Netzausbau immer noch nicht geklärt sind.»Bereits 36 Prozent aller Endgeräte sind gemäss Grasser heute schon 5G-tauglich und über 7,8 Millionen SIM-Karten erlauben die Nutzung von 5G. «Der Netzausbau kommt hingegen nur schleppend voran.» Aktuell seien in der Schweiz über 3000 Baugesuche hängig. «Müsste darüber hinaus noch jede Aktivierung eines Korrekturfaktors auf einer adaptiven Antenne erneut bewilligt werden, würde dieser Bewilligungsrückstand weiter anwachsen. Damit würde der Mobilfunkausbau faktisch vollständig blockiert und es drohte in absehbarer Zeit ein Datenstau in den Mobilfunknetzen.»Datenvolumen um das 200-fache gewachsenDer Datenverkehr über mobile Geräte ist in der Zeit von 2010 bis 2021 regelrecht explodiert, wie eine Studie des Forschungsinstituts Sotomo zeigte. Das Datenvolumen nahm um das 200-fache zu. Die Möglichkeiten der bisherigen 4G-Technologie seien «zunehmend ausgeschöpft», heisst es in der Studie. In der Coronazeit habe sich die Nutzung des Mobilfunknetzes zwar zeitlich und räumlich etwas besser verteilt. «Mit dem Ende der Pandemie wird sich dies jedoch rasch wieder ändern.» Und das Wachstum des Datenvolumens schreite ungebremst fort.

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