29.08.2021

Mit sich selbst im Reinen sein

Ben* und Melanie* können sich mit dem bei der Geburt zugeschriebenem Geschlecht nicht identifizieren.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
«Mit fünf Jahren wollte ich immer wie mein bester Freund sein», sagt Ben, «ich hatte kurze Haare und trug nur Kleider für Jungs.» Wenn er geträumt habe, war er ein Junge. Jedes Mal, wenn er aufwachte, musste er enttäuscht feststellen, dass es nur ein Traum nicht aber Realität war. Mit 13 stolperte er im Internet über das Thema Transgender und begann sich mit Gleichaltrigen auszutauschen. «Mir war schnell klar, dass das Gefühl, das ich schon immer hatte, ‹Dysphorie› genannt wird und ich trans* bin», sagt der 19-jährige Schüler. Er konnte sich nie mit den weiblichen Geschlechtsmerkmalen identifizieren und immer, wenn er als weiblich gelesen wurde, löste das extremes Unbehagen aus.Angst vor dem Coming-outEinmal eingestanden, befreite es Ben und in ihm keimte die Hoffnung, dass er anfangen könnte, die nötigen Schritte für seine Transition (Als Transition wird der Prozess bezeichnet, in dem ein Transmensch soziale, körperliche und/oder juristische Änderungen vornimmt, um die eigene Geschlechtsidentität auszudrücken) einzuleiten. «Gleichzeitig hatte ich grosse Angst und wurde suizidal, da mir der ganze Weg unmöglich erschien.» Weil er es seinen Freunden nach und nach erzählte und sie angemessen reagierten, fand er den Mut, seine Familie einzuweihen. Während sein Vater und seine Schwester es auf Anhieb akzeptierten und ihn fortan unterstützten, beichtete er es seiner Mutter bei passender Gelegenheit. «Es dauerte eine Weile, bis sie es verdaut hat», sagt der Thaler, «mittlerweile unterstützt auch sie mich voll und ganz.»Glücklicherweise war seine Angst unbegründet – alle ihm nahe stehenden Personen kamen mit seiner Entscheidung klar. Anders sah es im Schulalltag aus. «Nachdem ich wegen meiner Mastektomie (Brustentfernung) vier Wochen im Unterricht fehlte, war nichts mehr wie bisher.» Nicht nur die Mitschüler, sondern auch einige Lehrer hatten ihn auf dem Kieker. Zu Beginn seiner Transition wollten ihn drei kräftige Jungs zusammenschlagen, weil er ihrer Meinung nach «schwul» aussah. Ausserdem gab es intolerante Personen in seinem Umfeld, die auch zwei Jahre nach seinem Coming-out ihn absichtlich mit Geburtsnamen und weiblichen Pronomen angesprochen haben.Es war viel Überzeugungsarbeit nötigMit dem Coming-out war es für Ben noch nicht erledigt. Ein erster Schritt war gemacht, doch es brauchte noch viel Überzeugungsarbeit, um dorthin zu kommen, wo er dereinst sein möchte. «Vor allem mit meiner Mutter habe ich lange Diskussionen geführt», sagt Ben. Ausserdem war die erste psychologische Betreuung alles andere als ideal. Nach hartem Kampf startete der Schüler mit der Hormontherapie, darauf folgte die Brustentfernung. «Mir war es ziemlich egal, wie es herauskommt, da ich so oder so nicht mehr auf diese Weise existieren wollte», sagt der 19-Jährige. Alles an seinem Körper lehnte er ab, psychisch ging es ihm schlecht und immer öfter dachte er an Suizid. «Ich glaube, es würde mich nicht mehr geben, hätte ich nicht die Transition anfangen können.»Aktuell steht er mitten im Prozess, weitere Operationen zur Geschlechtsangleichung folgen. Bisher habe ich nichts bereut», sagt Ben, «im Gegenteil, wenn ich daran denke, ich hätte es nicht tun können, ist es eine Bestätigung, das Richtige gemacht zu haben.»Dankbar für die Unterstützung der Familie «Als der Tag der Operation kam, ging alles schnell», sagt Melanie, «ich war die zweite Person, bei der im Unispital Zürich eine neue Operationsmethode praktiziert wurde.» Sie sei nicht ängstlich, sondern voller Vorfreude gewesen.Für Melanie, die in Oberriet aufwuchs, kam das Bewusstsein, dass sie trans* ist, schleichend. «Besonders in der Pubertät war ich unzufrieden mit mir», sagt die 30-Jährige. Zu jener Zeit hatte sie auch mit Selbstmordgedanken zu kämpfen. Dass das Coming-out unspektakulär verlief, dafür sei sie ebenso dankbar wie für die Unterstützung und Gesprächsbereitschaft der Freunde, der Mutter und der Grosseltern. Melanie selbst fühlte sich danach wesentlich wohler und war auf dem Weg, mit sich selbst ins Reinen zu kommen.Allgemein macht Melanie einen gefestigten Eindruck. «Ich bekomme selten Vorurteile zu hören», sagt sie, «ich definiere mich auch nicht als Trans*, sondern als ich.» Und da ihr Passing (Passing bedeutet, dass eine Person als das Geschlecht anerkannt wird, als das sie/er anerkannt werden möchte) gut ist, werde sie auch selten mit dem Thema konfrontiert. Sie beantwortet gern Fragen und fühlt sich kaum gekränkt: «Es ist mir egal, wenn ich mit dem falschen Synonym angesprochen werde», sagt Melanie, «auch wenn noch Post mit meinem alten Namen ankommt, ist es für mich nicht schlimm.» Früher lehnte sie ihren Körper ab, mittlerweile mag sie auch ihre männliche Seite.Von der Namensänderung bis zur ZeugnisangleichungDie grössten Hindernisse waren für Melanie nicht die gesellschaftliche Akzeptanz, sondern die Bürokratie. Von der Namensänderung bis zur Zeugnisangleichung war es ein langer und aufwendiger, aber lohnenswerter Weg, so die stellvertretende Filialleiterin.Melanie empfindet es als wichtig, dass sich Menschen in ihrer Haut wohl fühlen und selbst entscheiden sollten, in welchem Geschlecht er oder sie leben möchte. «Ich finde es aber auch wichtig, dass man sich informiert und mit Menschen redet, die eventuell schon eine Operation hinter sich haben.»Sie selbst bereute die Entscheidung nie, stellt sich aber oft die Frage, ob sie die Operation wieder machen würde. «Darauf habe ich noch keine Antwort gefunden», sagt Melanie.*Name geändert.Transmenschen in der SchweizTrans* meint die Tatsache, dass ein Mensch sich nicht dem Geschlecht zugehörig fühlt, dem er bei der Geburt zugeordnet wurde. Diese Menschen kommen womöglich mit einem eindeutig männlichen oder eindeutig weiblichen Körper zur Welt, identifizieren sich aber als das andere Geschlecht oder als ein bisschen von beidem. Warum das so ist, weiss man nicht. Viele Transmenschen – aber nicht alle – haben den Wunsch, ihren Körper mit Hormonen und/oder Operationen anzugleichen.Häufig werden Transmenschen mit Transvestiten verwechselt. Transvestiten leben ihre «andere» Seite aus, indem sie sich entsprechend kleiden. Im Gegensatz zu Transmenschen fühlen sie sich aber wohl mit ihrem körperlichen Geschlecht. Transmenschen sind auch nicht mit Intersexuellen oder Zwittern zu verwechseln, deren Körper männ-liche wie weibliche Geschlechtsmerkmale haben.Trans* ist keine psychische Störung und auch kein moderner Trend. Wie viele Transmenschen in der Schweiz leben, ist nicht bekannt. Studien zeigen, dass einer von 200 Menschen sich nicht nur als das Geschlecht fühlt, dem er nach der Geburt zugeordnet wurde. Das wären in der Schweiz etwa 40000 Menschen.

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