20.10.2020

Mit 87 und 85 vor die Tür gestellt

Ein Rentnerpaar streitet seit Jahren mit dem Vermieter, auch vor Gericht. Jetzt muss es ausziehen.

Von Max Tinner
aktualisiert am 03.11.2022
Das Verhältnis von Karl und Josy Erni* zu ihrem Vermieter ist zerrüttet. Jetzt werden sie aus der Wohnung ausgewiesen. Solches kommt zwar selbst in kleinen Gemeinden vor. In ihrem Fall ist aber speziell: Sie sind 87 und 85 Jahre alt und gesundheitlich dermassen angeschlagen, dass ihre Ärzte von einem Wohnungswechsel abraten.Es begann mit der HeizkostenabrechnungDas Ehepaar wohnt seit 2007 in einer Fünfeinhalbzimmerwohnung im Oberrheintal. Nach ein paar Jahren kam es zu ersten Meinungsverschiedenheiten mit dem Vermieter. Es ging dabei um die nach Ansicht der Mieter viel zu hohe Heiz- und Nebenkostenabrechnung. Die Kostenaufteilung ist für das betagte Ehepaar nicht nachvollziehbar; es hält sie für unzulässig.Nachdem sich Mieter und Vermieter vor der Schlichtungsstelle nicht einigen konnten, gingen Karl und Josy Erni 2014 deswegen vor Gericht. Vor Gericht gingen sie später erneut, um wegen des für sie kaum erträglichen Lärms von einer Grossbaustelle in der Nachbarschaft eine Mietzinsherabsetzung einzufordern. Gestritten wurde weiter um Kabelfernsehanschlussgebühren, die nach Ansicht des Ehepaars in der Miete inbegriffen sind, für die es aber dennoch während Jahren Rechnungen bezahlte.Den Mietzins hinterlegten sie bei der GemeindeErfolg hatte das Ehepaar Erni nur wenig. Einzig die Mietzinsreduktion für die Zeit der Rohbauarbeiten in der Nachbarschaft brachte es durch. Danach zahlten Ernis ab Ende März 2018 den Mietzins nicht mehr aufs Konto des Vermieters ein, sondern hinterlegten ihn bei der Gemeinde, um deutlich zu machen, dass sie auf die Beseitigung der ihrer Ansicht nach weiterhin bestehenden Mängel hinsichtlich der Wärmekostenabrechnung und der Fernsehgebühren bestehen. Dabei unterliefen den beiden aber Fehler. Jedenfalls stellte das Kreisgericht fest, dass sie den Vermieter ungenügend über die Mietzinshinterlegung und über die geltend gemachten Mängel informiert haben. Hätten sie geschrieben, sähe es vielleicht anders ausSie hatten zwar nach eigenen Angaben dem Vermieter die Hinterlegung des Mietzinses mündlich angekündigt – was der Vermieter vor Gericht bestreitet.  Das Gesetz verlangt aber ohnehin, dass eine solche Hinterlegungsandrohung schriftlich gemacht werden muss und dabei auch eine Frist für die Behebung der beanstandeten Mängel zu setzen ist. «Eine mündliche Mitteilung der Hinterlegung reicht nach herrschender Lehre und Rechtsprechung nicht aus», hält das Kreisgericht fest. Das Kantonsgericht sieht es gleich. Damit gerieten Karl und Josy Erni nach Ansicht der Richter in Zahlungsverzug, obwohl sie am Ende jedes Monats Geld aufs Konto der Gemeinde eingezahlt haben. Es kam zur Mahnung mit Kündigungsandrohung und schliesslich, im August 2018, zur ausserordentlichen Kündigung auf Ende September 2018, die vom Kreisgericht für rechtens erachtet wurde.Karl und Josy Erni halten die Argumentation des Kreisgerichts hingegen für grundfalsch. «Wir sind niemandem etwas schuldig –  wir haben immer alles bezahlt», insistiert Karl Erni. Nach Ansicht des Ehepaars handelt es sich bei der Kündigung um eine missbräuchliche Rachekündigung, weil es vor Gericht ging und so versuchte, zu seinem Recht zu kommen. Die beiden wehren sich sprichwörtlich mit Händen und Füssen gegen die Kündigung und die Ausweisung aus der Wohnung. Dabei riefen sie inzwischen mehrfach alle Instanzen bis zum Bundesgericht an.Sie stellten dabei auch klar, dass die Kündigung und Ausweisung sie angesichts ihres Alters, ihres schlechten Gesundheitszustands besonders hart treffe. Auch finanziell, weil sie von einer nur bescheidenen Rente leben müssen und auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind. Deswegen forderten sie auch mehrfach, dass ihnen unentgeltlich ein Rechtsanwalt zur Seite gestellt werde.Auf Schreibmaschine getippt und im Laden vervielfältigtZwar waren sie zunächst vor Gericht von einer Anwältin vertreten worden. Jene legte aber ihr Mandat nieder, als die Rechtsschutzversicherung ihre Leistungen einstellte. Seitdem versuchen Karl und Josy Erni, sich mit selbst formulierten Klagen und Beschwerden zu wehren. Karl Erni tippt sie während langen Nächten auf einer alten mechanischen Schreibmaschine und vervielfältigt sie, zusammen mit schier unzähligen Seiten Belegen und früheren Gerichtsentscheiden, in der nötigen Anzahl am Kopierapparat in einem Einkaufszentrum.Fürs Kantonsgericht sind sie «prozessgewohnt»Das Kantonsgericht bezeichnet das Rentnerpaar im vorläufig letzten Entscheid vom 22. September zwar als inzwischen «prozessgewohnt». Die selbst geschriebenen Eingaben hat aber sowohl das Kantonsgericht als auch das Bundesgericht jedes Mal als «nicht hinreichend begründet» oder «von vornherein aussichtslos» abgewiesen. Deswegen wurde den beiden auch keine unentgeltliche Rechtspflege zugestanden. Immerhin hat das Bundesgericht bislang auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet.Dem Rentnerpaar scheint sowohl die Rechtsprechung der Gerichte als auch die Sache selbst, um die es geht (die Kündigung und die Ausweisung aus der Wohnung), skandalös. Es sieht sich von allen angerufenen Instanzen und Institutionen im Stich gelassen: «Man ist Bürger, zahlt Steuern und Beiträge, und doch bietet einem niemand Hand gegen ein solch brutales Vorgehen.» Karl und Josy Erni sehen sich in ihrer Menschenwürde verletzt.Weder ihr Alter noch ihre angeschlagene Gesundheit noch die momentan wegen Corona erschwerte Wohnungssuche ändert nach Ansicht des Kreisgerichts aber etwas daran, dass die Kündigung längst rechtskräftig ist. Mittlerweile ist die Gemeinde beim Rentnerpaar vorstellig geworden und hat ihm klarzumachen versucht, dass nun nichts mehr darum herum führt, dass es aus der Wohnung raus muss.Den Vermieter lässt die Sache nicht kalt. Er hält der Behauptung des Ehepaars Erni, es schulde niemandem etwas, aber entgegen, dass inzwischen wegen nicht vollständig beglichener Mietzinsen und Nebenkosten ein Ausstand in fünfstelliger Höhe bestehe. Die ihm entstandenen Anwaltskosten noch nicht eingerechnet. «Ich kann doch nicht ewig zuschauen, wie mir geschuldetes Geld ausbleibt, selbst wenn der Mann und die Frau schon 87 und 85 sind», sagt er. Es bleibe ihm doch letztlich nichts anders übrig, als so zu reagieren, wie er reagiert habe. Dennoch lässt er die Tür einen Spalt breit offen: Würde ihm das Mieterpaar oder sonst jemand die Fehlbeträge vergüten, könnte man auf die Ausweisung zurückkommen. «Den Zeitpunkt wollten wir selbst bestimmen»Seit zwei Wochen schauen sich Karl und Josy Erni nach einer neuen Wohnung um. Nicht weil sie die Forderungen des Vermieters oder die Meinung des Gerichts akzeptiert hätten. Sondern weil sie fürchten, die Polizei könnte jeden Tag vor der Haustür stehen und sie aus der Wohnung führen. Aber auch, weil sich ein Wohnungswechsel schon länger abgezeichnet hat: Die Wohnung liegt im dritten Stock, und einen Lift gibt es nicht. Das wird vor allem für die gehbehinderte Josy Erni zunehmend zum Problem.  «Nur», sagen die beiden, «den Zeitpunkt unseres Umzugs wollten wir selbst bestimmen.»* Namen geändert

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