05.03.2019

Mit 400 Schafen durch den Winter

Thomas Landis zieht mit einem Esel, drei Hunden und 400 Schafen durch die Region und bildet die erste Winterwanderherde seit Jahrzehnten. Er führt ein Leben zwischen Entbehrungen und magischen Momenten.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Benjamin SchmidEs weht eine frische Brise über das Feld. Thomas Landis steht am Rande und lässt seinen Blick schweifen. Vor ihm weiden 400 Schafe verschiedener Rassen. Langsam trotten sie über die Wiese auf der Suche nach frischem Gras. Während die Hütehündin Lotte nicht von Landis’ Seite weicht, halten Balu und Rapi die Herde zusammen. Landis pfeift und schnalzt oder ruft seinen Hunden Kommandos zu – und wie von Geisterhand gehorchen die Tiere. Es ist ein eingespieltes Team, zu welchem auch Moritz der Esel zählt. Nicht zum ersten Mal kümmert sich das Quintett um das Wohlergehen von Schafen. Die meisten Tiere gehören Markus Kobler aus Oberriet, ein paar wenige nennt Landis sein Eigentum. Seit 1985 wandert Landis jeden Winter mit einer Herde durch die Schweiz. Doch zum ersten Mal ist er im Rheintal unterwegs. Das sei eine besondere Herausforderung, schliesslich gebe es keine Erfahrungswerte, von denen man profitieren könnte. Ausserdem biete das Tal wenig Schutz, dafür umso mehr Gefahren, wie der viele Verkehr auf den Strassen.Wetterfest, standhaft und ausdauerndLandis ist einer von 20 Wanderhirten. «Vor Jahren wurde ich vom Virus gepackt», sagt der Schäfer und ergänzt: «Seither versuche ich erfolglos, davon loszukommen.» Es gebe kaum Negatives über den Beruf zu erzählen. Gemäss Landis überwiegen die magischen Momente. Das Leben als Hirte sei zwar von vielen Entbehrungen geprägt, halte aber immer wieder unglaublich schöne Situationen, Stimmungen und Bilder parat. «Ich kriege heute noch Gänsehaut und es kribbelt in mir, wenn in frühen Morgenstunden die Sonnenstrahlen die Weiden fluten.» Sobald diese Gefühlsintensität nachlässt und er das Kribbeln nicht mehr spürt, sei es Zeit aufzuhören. Die Arbeit verlangt vieles vom Hirten. Ob bei Wind, Schnee oder Regen, bei jedem Wetter steht er auf dem Feld und führt die Herde an. Es braucht Kraft und Ausdauer sowie Willensstärke, aber auch Feingefühl, Instinkt und viel Geduld. «Man sieht es den Tieren an, ob sie von einem pflichtbewussten Hirten gehalten werden oder nicht», sagt der 58-Jährige. Im Endeffekt sei es aber eine Arbeit wie jede andere – mal mache sie mehr Spass, mal stehe der Lohn im Vordergrund. Wahrscheinlich sei man als Hirte noch mehr von äusseren Einflüssen abhängig. Weder das Wetter noch die Umgebung und erst recht nicht die Bauern, über deren Land er mit den Schafen zieht, könne er regulieren. Deshalb schätze er es umso mehr, dass ihn die Rheintaler Bauern bisher nicht nur toleriert, sondern auch akzeptiert hätten. Abgesehen vom Nachtquartier bleiben die Tiere nie längere Zeit an einem Ort. Die extensive Winterbeweidung ist nachhaltig und umweltfreundlich. «Man sagt, die Schafe haben den goldenen Tritt und den silbrigen Biss.» Schafe lockern mit ihren kleinen Hufen den Boden und verdichten ihn nicht. Ihr Schafsbiss kappt Gräser knapp oberhalb der Wurzeln, die so in die Breite spriessen und eine dichte Grasnarbe bilden, so der Hirte.Kein Leben ohne SchafeThomas Landis kann sich ein Leben ohne Schafe kaum mehr vorstellen. Über die Jahre hinweg hat er die Tiere lieb gewonnen und ins Herzen geschlossen. «Es sind sensible Tiere mit viel Gespür. Auch nach Jahren der Trennung erkennen mich Schafe wieder, sei es wegen des Aussehens, des Gangs oder des Lockrufs.» Bei aller Faszination für die Tiere darf man den Respekt vor ihnen nicht verlieren. Einerseits seien sie Lebewesen wie wir auch, andererseits sei es seine Arbeit, dafür zu schauen, dass die Tiere an Gewicht zulegen und gesund bleiben. Blieb er früher auch während der Nacht in der Nähe der Tiere – sei es aus Sorge um deren Wohlbefinden, sei es aus logistischen Gründen, schätze er es heute, die Nacht in einer Wohnung zu verbringen. Dienten früher Zelt und Wohnwagen als Unterkunft, fand er für diese Saison Unterschlupf in Diepoldsau. «Etwas Luxus darf man sich aufs Alter hin leisten», sagt der Schäfer, «von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang kümmere ich mich um die Tiere, danach geht’s zum Einkaufen, Wäsche waschen und kochen.» Erst nach 20 Uhr habe er Zeit für sich selbst und seine Liebsten – doch meistens fehle ihm dann die Kraft, sein soziales Netzwerk zu pflegen.Keinen Platz für RomantikSo romantisch das Bild vom Hirten, der mit Hund, Esel und Schafen durch die tief verschneite Landschaft watet, präsentiert sich die Realität dann doch nicht. Oft habe man mit Einsamkeit zu kämpfen. «Fare un sacrificio» nennen es seine Tessiner Freunde. Tatsächlich opfert sich Thomas Landis seit Jahrzehnten für seine Tiere auf. Doch zu welchem Preis. Diese Frage stellt er sich selbst auch immer wieder.Trotz der Schattenseiten in seinem Alltag, erfreut sich Landis an den Kleinigkeiten und speziell im Frühjahr freut er sich darauf, sein Fahrrad zu besteigen und davon zu radeln – nicht für immer, aber für ein paar Tage.Doch spätestens, wenn die Tage kürzer werden und die Sommerhitze den kühlen Herbsttagen weicht, kehrt es zurück, das Kribbeln in seinem Bauch, und der Hirte wird neuerlich vom Virus befallen.

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