05.07.2021

«Mir fiel es nie schwer, über Sex zu reden»

Bettina Lehmann ist Spezialistin für Sexological Bodywork: Die Marbacherin hilft, wenn es im Schlafzimmer nicht klappen will.

Von Interview: Seraina Hess
aktualisiert am 03.11.2022
Sexualität erörtern und andere Menschen berühren, um Problemen auf den Grund zu gehen: Seit September beschäftigt sich Bettina Lehmann (51) in ihrer Praxis in Marbach hauptberuflich mit Sexological Bodywork. Im Interview spricht die ehemalige Sozialpädagogin über Scham, Leistungsdruck und Grenzen, die sie Klienten immer wieder aufzeigen muss.Bettina Lehmann, weshalb sucht man eine Sexological Bodyworkerin auf und nicht die Therapeutin?Bettina Lehmann: Die Sexualtherapeutin führt mit ihren Patientinnen und Patienten ein Gespräch; in meiner Ausbildung habe ich aber gelernt, Probleme auch über den Körper anzugehen. Ich erkläre es jeweils so: Wenn man erzählt bekommt, wie Achterbahnfahren funktioniert, kann man es sich zwar vorstellen – aber nur wenn man in der Achterbahn sitzt, weiss man, wie es sich wirklich anfühlt. Mit dem Achterbahnfahren klappt es bei Ihren Klienten offenbar nicht oder nicht mehr. Mit welchen Problemen beschäftigen Sie sich in Ihrer Praxis? Das kann beispielsweise eine Transgender-Person sein, die sich hat operieren lassen und jetzt mit einem völlig neuen Körper dasteht. Er oder sie kennt diesen Körper selber kaum – wie also Sexualität leben, wenn möglich sogar in einer Partnerschaft? In der Praxis versuchen wir dann, mit dem eigenen Körper ins Reine zu kommen. Dasselbe gilt übrigens für Frauen, deren Körper sich nach der Geburt oder nach einer Brustoperation verändert hat.Wie steht es um Paare? Auch die suchen sich Hilfe. Nehmen wir ein Paar, das schon lange zusammen ist. Irgendwann merkt der Partner oder die Partnerin: Ich habe eigentlich gar keine Lust mehr auf Sex in der Beziehung. Weil es schwierig ist, Wünsche zu kommunizieren, bricht einer der beiden aus und holt sich auswärts, was er oder sie braucht. Es gibt aber verschiedene Möglichkeiten, die Lust gemeinsam wiederzufinden. Und an dieser Stelle kommt Ihre Arbeit ins Spiel. Genau. Oft wissen weder Mann noch Frau, wie sie ihre Sexualität leben wollen. Deshalb finden wir es gemeinsam heraus. Solche Gespräche gestalten sich manchmal ziemlich anspruchsvoll. Es offenbart sich vielleicht, das der Partner oder die Partnerin ein einziges Erlebnis hochstilisiert, dass sich vor vielen Jahren – unter Umständen sogar mit einer anderen Frau oder einem anderen Mann – ereignet hat. Wir analysieren, was die Qualität dieses besonderen Erlebnisses war und versuchen, diese in die Sexualität des Paares einzubinden.Ist das der Prototyp Ihrer Kundschaft: Paare, bei denen es im Schlafzimmer nicht mehr auf dieselbe Weise klappt wie zu Anfangszeiten der Beziehung? Nein, das Klientel ist so vielfältig wie die Menschen: Manche wollen bei mir nur den Horizont erweitern, andere tatsächlich ein Problem lösen. Gerade junge Menschen leiden nicht zwingend an Lustlosigkeit, sondern an ihren Vorstellungen von Sexualität, die stark von einschlägigen Medien geprägt sind. Sowohl auf Männern wie auch auf Frauen lastet ein riesiger Leistungsdruck aufgrund der Bilder und Filme, die sie meist schon vor den ersten eigenen Erfahrungen konsumiert haben.Wie äussert sich das? Junge Männer fühlen sich beispielsweise unzulänglich, weil sie nicht den riesigen Penis besitzen, der in der Pornografie zu sehen ist. Frauen wiederum meinen, sie müssten jegliche Praktiken mitmachen und diese auch noch mögen. Wenn einem dabei nicht wohl ist, man aber gar nicht weiss, was einem wirklich gefällt, fühlt man sich ziemlich verloren. Dazu kommt die Scham, ebenfalls ein grosses Thema in meiner Praxis.Inwiefern? Das Nacktsein ist für viele Menschen negativ behaftet und gilt häufig sogar als falsch. Wer sich aber für den eigenen Körper schämt, wird vermutlich nie eine erfüllte Sexualität leben können.Eingangs sagten Sie, Sie würden im Gegensatz zum Therapeuten nicht nur reden, sondern mit dem Körper arbeiten. Bisher klingt sehr vieles nach langen Gesprächen. Fassen Sie Ihre Klienten auch an? Natürlich kommt es auf das Thema an. Aber ja, durchaus. Wer ein Problem mit Scham hat, wird früher oder später in der Behandlung üben müssen, sich nackt auszuziehen und im Spiegel zu betrachten. Man lernt, sich selbst zu berühren, aber auch, Berührungen zuzulassen. So kann dass Stück für Stück weitergehen, bis ich jemanden im Arm halte, ihm oder ihr die Hand auf den Bauch oder auf den Intimbereich lege. Das dient dem Zweck, das Gefühl zu vermitteln, okay zu sein. Fühlen Sie sich dabei nicht unwohl, trotz des Therapeuten-Settings? Sie meinen vermutlich, falls ein Mann eine Erektion bekommt? Auch das ist in Ordnung, zumal er das nicht steuern kann. Aber klar, Ich muss mich abgrenzen und einen Rahmen definieren: Mein Körper steht nicht zur Verfügung, der Klient muss passiv sein und darf mich nicht berühren. Zu Übergriffen kommt es in der Praxis nie – am Telefon hingegen gibt es gelegentlich unangenehme Situationen.Was passiert am Hörer? Es gibt Männer, die mich am Hörer in einen Sextalk verwickeln möchten. Ich versuche, sachlich zu bleiben, und sage offen, dass ich dazu nicht bereit bin. Dafür gibt es andere Angebote. Ist die physische Nähe in Ihrem Job manchmal belastend? Nein, man wächst in den Beruf hinein. Aber klar, mein altes Ich steht manchmal daneben und denkt sich: Ach, Bettina, was machst du da, das ist doch alles ein bisschen schräg. Ich weiss aber auch, dass der Beruf zwar keine alltägliche, aber eine sehr wertvolle Arbeit ist, mit der sowohl ich als auch mein Partner klarkommen.Was hat Sie dazu bewogen, den alten Job an den Nagel zu hängen und sich ganz auf Sexological Bodywork einzulassen? Ich fand das Thema schon immer spannend und es fiel mir nie schwer, über Sex zu reden. Nachdem ich einen Kurs abgeschlossen und mit Tantramassagen angefangen hatte, fiel mir auf, dass mir manche Klienten während der Massage von ihren Problemen erzählten. Es interessierte mich, doch mir fehlten die Antworten. Deshalb bildete ich mich weiter. Ist Ihr Angebot überhaupt gefragt?  Die Nachfrage dürfte durchaus grösser sein. Die meisten Menschen suchen bei Problemen mit ihrer Sexualität – beispielsweise bei Erektionsproblemen – den Arzt oder den Sexualtherapeuten auf, weil eine Alternative wie Sexological Bodywork noch wenig bekannt ist. Letzten Endes braucht es vor allem eine gehörige Portion Mut, sich intensiv mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen und Hilfe zu beanspruchen.  In Fachkreisen teilweise anerkanntPer Definition des europäischen Berufsverbands ist Sexological Bodywork eine Methode, die Menschen zu neuen Erfahrungen mit ihrem Körper, ihrer Sinneswahrnehmung und ihrer Sexualität begleitet. In Fachkreisen ist das Angebot zumindest teilweise anerkannt, bestätigt die Buchser Paar- und Sexualtherapeutin Bettina Thaler. «Je nach Hintergrund des Patienten – etwa bei Problemen mit dem eigenen Körper – kann das Angebot durchaus sinnvoll sein», sagt die Spezialistin. Eine Empfehlung durch den Therapeuten gebe es aber nur in seltenen Fällen nach umfangreichen Abklärungen. (seh)

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