01.03.2021

"Mein Zuhause ist hier"

André Zutter ist in Peru geboren, hat für Leica in über 40 Ländern gearbeitet und übersetzt heute für Migranten.

André Zutter ist 1947 in der peruanischen Hauptstadt Lima geboren. Sein Grossvater verliess um 1918 die Schweiz und hat in England, wo er für eine Schweizer Bank angestellt war, eine Engländerin geheiratet. Nach der Heirat kehrten die Grosseltern in die Schweiz zurück, die sie kurz darauf wegen eines Jobangebots aus New York wieder verliessen. Doch auch New York blieb nur ein Zwischenstopp. 1930 erhielt Grossvater Zutter die Chance, für eine Bankgesellschaft in Lima zu arbeiten. Er nahm die Herausforderung an, liess sich mit Frau und Söhnen nieder und kurze Zeit später erblickte André Zutters Vater das Licht der Welt.André Zutter selbst wuchs zusammen mit seinen zwei Brüdern und seiner Schwester in einer Mittelklassefamilie auf, besuchte in Lima zuerst eine britisch-peruanische und später eine schweizerisch-peruanische Schule. 1966 beantragte er als Auslandschweizer den Schweizer Pass und reiste noch vor dem Staatsstreich von General Juan Velasco Alvarado in die Schweiz.Willkommen in einer anderen Welt«Ich war sehr interessiert, die Schweiz kennen zu lernen», sagt der 72-Jährige. Von Verwandten habe er so vieles gehört und in Büchern nachgelesen. «Als ich dann in Zürich landete, waren meine Gedanken: Willkommen in einer anderen Welt.» Er erkannte, dass die Schweiz sehr nahe an dem war, was er über die Jahre gehört hatte: «Ganz anders als Peru, aber ich mochte das Land von Anfang an.»Nachdem er freiwillig die Rekrutenschule absolviert hatte, begann er in Zürich eine Banklehre. Da diese nicht seinen Vorstellungen entsprach, wechselte er in die Fotogrammetrie (Landkartenherstellung). 1971 erzählte ihm ein Freund von einer Schweizerin, die in Lima aufgewachsen ist und die er ihm vorstellen möchte. Obwohl der Name der Frau André Zutter bekannt vorkam, war er völlig überrascht, als sich die Unbekannte als eine Schulfreundin entpuppte. «Wir verstanden uns auf Anhieb», sagt der Pensionär. Sie lernten sich kennen und lieben. Ein Jahr später nahm er eine Arbeitsstelle an der schweizerischen Schule für Fotogrammetrie-Operateure in St. Gallen an und seine Freundin folgte ihm etwas später in die Ostschweiz. 1974 erklangen die Hochzeitsglocken und in der Folge erhielt die Familie Zuwachs von zwei Töchtern und einem Sohn. Zehn Jahre arbeitete er in St. Gallen, bevor er jahrelang für Kern & Co. AG in Aarau tätig war. Anfang der 1990er-Jahre wurde sein Arbeitgeber von der Leica Geosystems AG übernommen und André Zutter zog mit seiner Frau und seiner jüngsten Tochter Michèle ins Rheintal nach Diepoldsau. Während seine Schwester im Süden Englands, der eine Bruder in den Vereinigten Staaten von Amerika und der andere in Spanien lebt, wohnen seine Kinder alle in der Schweiz.Keine Anrufe und keine E-MailsSeine Aufgabe bei Leica bestand darin, zu Kunden zu reisen, die ein spezielles System zur Herstellung und Aktualisierung von kartografischem Material gekauft hatten und sie in dessen Anwendung zu unterrichten. «Weil ich mehrere Sprachen beherrsche und es mir nichts ausmachte, unter Zeitdruck zu unterrichten, schickte man mich in über 40 Länder», sagt André Zutter. Seine Muttersprache ist Englisch, seine Zweitsprache Spanisch und die erste Fremdsprache Deutsch. Wenn er nach der Rückkehr keine Telefonanrufe oder E-Mailbenachrichtigungen vorfand, war das ein Zeichen seines Erfolgs. Viele Reisen waren beeindruckend, auch wenn er wenig von der Landschaft, aber umso mehr von den Leuten erfahren durfte.Unvergessen bleibt die Reise 1984 ins kommunistische China. Das Gebäude, in dem er unterrichten musste, war neu und hatte noch keine Fensterscheiben. Es sei so kalt gewesen, dass es die einzige Reise blieb, in der er seinen Pyjama unter der Kleidung trug.Denkwürdig auch die Reise nach Kolumbien. Obwohl er für ein staatliches Institut arbeiteten, fürchtete er sich davor, wegen Lösegeld entführt zu werden. Glücklicherweise sei es bei der Angst geblieben. Grossartig sei auch die Reise nach Moldawien gewesen. Statt in zehn Tagen den je zur Hälfte moldawischen und russischen Studenten den Stoff zu vermitteln, standen ihm nur sieben Tage zur Verfügung. An den anderen Tagen wurden Geburtstage gefeiert und alle seien ziemlich glücklich nach Hause gegangen: «Die Feiern begannen vor dem Mittag und gingen den ganzen Nachmittag weiter», erinnert sich André Zutter. «Die Besonderheit war, dass auf der einen Seite des Tisches Cognac- und auf der anderen Seite Wodkaflaschen standen.»Nur einmal nach Peru zurückgekehrtAm 28. Juli kann es vorkommen, dass sich seine Familie mit anderen Peruanern oder Peru- Freunden zusammenschliesst, um den Nationalfeiertag Perus gemeinsam zu begehen. Er sei mit vielen Schulfreunden in Kontakt geblieben, doch habe sich dieser über die Jahre sehr abgeschwächt. Um 1970 wurde die politische Situation immer unangenehmer, weshalb auch seine Eltern Peru Richtung Europa verliessen, sich in Spanien niederliessen und eine Bäckerei gründeten, die André Zutters jüngster Bruder später übernommen hat. «Ich kehrte nur einmal nach Peru zurück», sagt der Doppelbürger. Sein Arbeitgeber schickte ihn, um eine Präsentation bei einem Kunden in Lima zu halten. «Ich habe einige alte Freunde getroffen, aber die Dinge hatten sich damals schon sehr verändert.»Obschon er seine Jugend in Peru nicht missen möchte, behält er nur das angenehme Klima, die schöne Natur und das gute, einfache Leben in Erinnerung. Mit der Unsicherheit, der Korruption und den sozialen Spannungen hat er abgeschlossen. In den letzten 50 Jahren habe sich wenig verändert, erzählten ihm unlängst peruanische Freunde. Die zweite Welle der Coronapandemie hat das Land schwer getroffen. Die Krankenhäuser sind überfüllt, zudem ist der Sauerstoff zur Behandlung der Covid-19-Patienten knapp. Ausserdem kämpft das Land immer noch mit dem schrecklichen Erbe seines Ex-Präsidenten Alberto Fujimori, der wegen systematischer Zwangssterilisationen Tausender Indigenen vor Gericht steht.Seit seiner Pensionierung 2012 arbeitet er als Spanisch- und Englischübersetzer für die Fachstelle Integration Rheintal und hilft vorwiegend südamerikanischen Migranten. Aktuell betreut er sechs Personen. Sie alle seien auf der Suche nach Arbeit, Stabilität, Kontinuität und Sicherheit in die Schweiz gekommen. «Werte, die hier zum Alltag gehören», sagt Zutter und fügt hinzu: «Es ist beispielhaft, wie ein kleines Land mit vier Kulturen seit über 700 Jahren in Freiheit lebt.»

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