14.06.2019

Mein Kirchturm – dein Kirchturm

Ich könnte wetten, dass es eher eine Sache von Sekunden als von Minuten ist. Von dem Ort aus, an welchem Sie gerade Ihre Zeitung lesen, reichen wahrscheinlich ein paar Schritte zum Fenster – und sie werden ihn sehen.

Von Ramona Casanova-Baumgartner
aktualisiert am 03.11.2022
Manch einer muss vielleicht noch nach draussen in den Garten gehen. Doch dann ist er kaum mehr zu übersehen: der Kirchturm.Mein kleiner Neffe hat mir mit glänzenden Augen erzählt, dass er in seinem Dorf mit dem Mesmer auf den Kirchturm steigen durfte. Eine ganz alte Holztreppe wand sich den dicken Mauern entlang nach oben. Die Gucklöcher liessen ihn erahnen, wie hoch er schon gestiegen war. Stufe um Stufe ging es voller Vorfreude weiter und er hatte immer vor Augen, wie er bald bei den Glocken oben stehen und ins Weite hinausschauen konnte – den Himmel zum Greifen nahe.Ich war später einmal selbst auf diesem Kirchturm. Die Tür zum Eingang war ziemlich ungeschickt eingebaut und ohne gekonnte Verrenkung kaum zu öffnen. Es ging auf alten, knarrenden Stufen nach oben und ich war überrascht, wie dunkel es in diesem Turm war. Kein Wunder, denn die Gucklöcher glichen mehr einem Durchbruch für Rohrleitungen als einem Fenster. Bei meiner Kirchturmbesteigung fielen mir fehlende Tritte auf. Nicht immer gelang es mir, den Spinnennetzen auszuweichen, und der Vogelkot sowie die toten Insekten am Boden lösten bei mir keine Begeisterungsstürme aus. Zu guter Letzt musste ich auf allen Vieren unter dem Uhrwerk hindurchkriechen.Kaum zu glauben, dass es sich hierbei um ein und denselben Kirchturm handelt. Die Eindrücke meines Neffen und meine eigenen sind dermassen unterschiedlich. Ich wage zu behaupten, dass es uns mit unserer Haltung zur Kirche ähnlich geht. Die Begeisterungsfähigkeit eines Kindes ist uns abhandengekommen. Wir sehen vor allem, was uns stört und was nicht in Ordnung ist. Alles erscheint veraltet, eng und starr. Am liebsten geht man auf Abstand. Allerdings: Der Kirchturm weist immer nach oben. Er setzt einen Gegenakzent zum Schweren und Belastenden. Er glaubt an das Gute, an die Gerechtigkeit, an den Frieden. Er zeigt, was es bedeutet, dem Himmel zum Greifen nahe zu sein.Deshalb wäre es schade, vor dem Kirchturm zu verharren. Warum nicht den kindlichen Glanz in den Augen wiederfinden und hinaufsteigen, Stufe um Stufe. Und dort, wo etwas zerbrochen ist, setzen wir es wieder in Stand, wo etwas schmutzig ist, putzen wir es, wo es dunkel ist, bringen wir Licht hinein. Immer aufwärts. Es lohnt sich. Unser Glaube lässt uns dem Himmel zum Greifen nahe sein.Ramona Casanova-BaumgartnerPastoralassistentin in Rebstein

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.