20.11.2018

Medizinisch gegen falsche Demut

Wer Harn oder Stuhl nicht zurückhalten kann, sieht sich stark eingeschränkt. Dem Problem widmet sich seit zwei Jahren ein Ärzteteam mit intensiver interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Es tönt sehr hart – und war es auch: Litt früher jemand im hohen Alter an Inkontinenz, wurde nicht lange gefackelt.Ab ins Altersheim und Windeln umgebunden.Zum Glück ist diese Zeit vorbei. Ein Tabuthema ist Inkontinenz trotzdem noch. Auf dem Land vielleicht umso mehr, mutmasst Sascha Hoederath, Oberarzt Chirurgie am Spital Grabs. Die Gesellschaft sei allerdings gross­zügiger geworden, offener, verständnisvoller, fügt die leitende Chirurgin Manuela Brunner hinzu. Entwickelt habe sich zudem die Medizin, sodass es heute mehr Behandlungsmöglichkeiten gebe.Urogynäkologin als GlücksfallHoederath und die 1994 nach Balgach zugezogene und heute in Rebstein lebende Manuela Brunner bilden zusammen mit drei weiteren Spezialisten das interdisziplinär arbeitende Team, das seit zwei Jahren den Beckenbodenzirkel am Spital Grabs betreibt. Der ist zwar kleiner als das Beckenbodenzentrum am Kantonsspital St. Gallen, was Hoederath bescheiden sagen lässt, sich so zu nennen, hätte man sich nicht getraut. Zwischen St. Gallen und Chur ist der Zirkel allerdings eine unübertroffene Kooperation mit breitem Behandlungsspek­trum.Beatrix Hämmerle, die stellvertretende Chefärztin Gynäkologie ist eine von schweizweit 27 Urogynäkologen. Ihr Wirken in Grabs bezeichnet die in Altstätten aufgewachsene und hier lebende Nicole Keller als Glücksfall. Solche Spezialisten seien sonst an Unikliniken und Kantonsspitälern tätig, sagt die Oberärztin Gynäkologie. Hämmerle wiederum gibt zu verstehen, man sehe sich in Grabs keinesfalls in der Rolle von Lokalmatadoren, sondern habe stets jenen Standard im Sinn, der jedem Patienten und jeder Patientin zustehe. Will heissen: Bei Bedarf wird die Creme de la Creme beigezogen, weshalb an gewissen Operationen immer mal wieder ein Facharzt aus einem fernen renommierten Haus beteiligt ist.Lebensqualität markant erhöhenAber zurück zum Thema. Zu Inkontinenz und Beckenbodenproblemen. Zum Beispiel kann Inkontinenz mit einer erfolgreichen Krebsbehandlung einhergehen. Inkontinenz als Nebeneffekt birgt die Gefahr, dass Patienten sich in falscher Demut üben, indem sie denken, das neue Problem sei als das kleinere der beiden Übel hinzunehmen. – Ist es aber nicht.80 Prozent der Patienten, die eines der Probleme haben, mit denen sich der Beckenbodenzirkel befasst, haben am Ende der Therapie eine befriedigende Lebensqualität. Zumindest könnten Patienten bilanzieren, jetzt kämen sie klar, sagt Sascha Hoederath. Er nennt als Beispiel einen Achtzigjährigen, der dank der Therapie seiner Wanderleidenschaft weiterhin (oder wieder) nachgehen kann.Seit dem Start vor zwei Jahren hat der Zirkel über 200 Menschen geholfen. Knapp die Hälfte stammt aus dem Wahlkreis Rheintal.Am Altstätter Spital ist am Freitag stets eine Ansprechperson zugegen. Anders als in St. Gallen haben die Patienten in Grabs den Vorteil, kaum warten zu müssen und eine persönliche Atmosphäre vorzufinden. Um Erfolg zu haben, sind Geduld und die Bereitschaft, mitzuwirken, nötig. Zeit zu haben, sei das Wichtigste, sagt Hoederath.Erster Fortschritt nach drei MonatenDie Therapie ist stufenweise aufgebaut. Physiotherapie steht meistens am Anfang, sodann können der Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. zur Abdichtung der Blase), die Stimulation von Nerven oder eine Operation zur nachhaltigen Besserung führen.Ein erster merklicher Fortschritt ist in der Regel nach drei Monaten feststellbar, eine Therapie erstreckt sich bis zu einem halben Jahr. Zur Operation kommt es bei jedem fünften an Inkontinenz leidenden Patienten.Eine Beckenbodensenkung macht dagegen praktisch immer eine Operation erforderlich. «Dä Ärmel inezoge»Eine Spezialausbildung zur Urogynäkologin geniesst derzeit die 35-jährige Nicole Keller. Die Alt-stätter Oberärztin in der Frauenklinik des Grabser Spitals ist bereits Fachärztin in Gynäkologie und Geburtshilfe. Nun strebt sie den Schwerpunkttitel «Operative Gynäkologie» an, was drei bis sechs Jahre beansprucht und eine bestimmte Zahl von Untersuchungen und Operationen voraussetzt.Nach bestandener Prüfung wird Nicole Keller sodann den höchsten Titel auf ihrem Fachgebiet anstreben – den Schwerpunkttitel Urogynäkologie. Bis zur Prüfung werden mindestens eineinhalb weitere Jahre vergehen; tatsächlich sind es wegen sehr hoher Anforderungen zumeist bis zu fünf Jahre.Die Tochter eines pensionierten Kantilehrers hat die Kantonsschule Heerbrugg besucht und an der Universität Zürich studiert. Während ihres Studiums hatte sie sich noch vorgestellt, später als Hausärztin zu wirken.Nach ihrer Tätigkeit als Assistenzärztin in Grabs, Davos und St. Gallen fing sie 2015 am Grabser Spital als Oberärztin an. Hier hat es ihr «dä Ärmel inezoge». Massgeblichen Anteil an Nicole Kellers Begeisterung für die Gynäkologie habe der pensionierte frühere Chefarzt Franz Lima­cher, der noch an zwei Halbtagen pro Woche in Grabs tätig ist.«Mer gfallt’s im Rhintl», sagt die Ärztin, die das Leben in unserem Tal dem Wirken in einer Stadt vorzieht. Das einerseits Bodenständige und anderseits die Möglichkeit, zu hochstehender Medizin beizutragen, faszinieren die Altstätterin.Gert Bruderer KuhnsMusik zur OperationSchon 2017 hatte die Grabser Frauenklinik an einem Kongress in Barcelona ein selbst hergestelltes Video gezeigt, und dieses Jahr bewarb man sich erfolgreich mit einem knapp fünfminütigen Film für einen Kongress in Phi­ladelphia.Das Video zeigt eine Operation, an der die Altstätterin Nicole Keller als eine von drei Ärztinnen beteiligt ist.Auch der Soundtrack stammt aus Altstätten. Auf die Melodie stiess Nicole Keller als Kundin im Coiffeursalon Irene Garbinis. Die Hintergrundmusik, die im Salon zu hören war, gefiel Nicole Keller und erschien ihr passend für das Video.Komponiert hat die Musik der Gatte der ebenfalls musikalisch tätigen Garbini – Dany Kuhn. (gb)

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