08.09.2019

Mattles Referat: Die Gesellschaft stärken

Altstättens Stadtpräsident Ruedi Mattle hielt bei der Eröffnung der Interreligiösen Dialog- und Aktionswoche ein bemerkenswertes Referat, das wir hier vollständig wiedergeben.

Freund oder Feind? In einer Zehntelsekunde entscheiden beim ersten Kennenlernen nur gerade zwei Fragen darüber, ob wir das Gegenüber als Feind oder Freund wahrnehmen.Liebe Freunde der IDA, geschätzte Damen und Herren. Herzlich willkommen im Altstätter Zeltcamp, in welchem wir die Welt anschauen und sehen, wie Vereine vereinen.Grundlage der IDA ist die St.Galler Erklärung für das Zusammenleben der Religionen und den interreligiösen Dialog. In der Einleitung dieser Erklärung steht unter anderem: „Heute leben im Kanton St.Gallen Mitglieder verschiedener Religionen und Konfessionen. […] Viele Angehörige nichtchristlicher Religionen sind Ausländerinnen und Ausländer. […] Das Zusammenleben in dieser Vielfalt ist nicht immer leicht. Viele empfinden es als Bedrohung.“Aber warum eigentlich fühlen sich viele von Vielfalt bedroht? Was bräuchte es, um dieses Gefühl der Bedrohung zu mindern, um die Angst vor der Vielfalt zu nehmen?Einen möglichen Lösungsansatz finden wir in der psychologischen Forschung. Die Psychologie beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit der Analyse der Begegnung, insbesondere mit der Begegnung von sich fremden Menschen. Was passiert in diesem kurzen Moment des noch unvoreingenommenen ersten Kontakts? Was entscheidet in diesem Moment des Kennenlernens darüber, ob mir das Gegenüber sympathisch ist oder ich den Kontakt lieber möglichst rasch beenden möchte?Verschiedene Studien zeigen, dass bei der erstmaligen Begegnung zweier sich unbekannter Menschen nur zwei Fragen wichtig sind:Erstens: kann ich dieser Person vertrauen? Und zweitens: Kann ich sie respektieren?Über die Antwort auf diese beiden Fragen entscheiden wir innerhalb einer Zehntelsekunde. Ideal ist es, wenn beide Antworten positiv ausfallen, wobei die erste Frage weitaus wichtiger ist. Bringe ich dem Gegenüber kein Vertrauen entgegen, so nehme ich sie oder ihn als Bedrohung wahr. Erst wenn die Vertrauensfrage positiv beantwortet ist, frage ich mich, ob mich die Person auch interessiert, wie ihr sozialer Status ist, ob ich sie respektieren kann.Gegenseitiges Vertrauen und gegenseitiger Respekt führt die Menschen zusammen. Dabei ist das Vertrauen die zentrale Grösse, das Vertrauen ist das Schmiermittel für ein positives Zusammenwirken im Räderwerk unserer vielfältigen Gesellschaft. Vertrauen macht uns als Gesellschaft zur Gemeinschaft, denn es ermöglicht es dem Einzelnen, stärker zu sein, als er es alleine wäre. Der renommierte Hirnforscher Niels-Peter Birbaumer sagte über das Vertrauen: „Es ist, als wohne diesem Gefühl eine segnende, Frieden stiftende Kraft inne.“Wenn Vertrauen so wichtig ist, so stellt sich unweigerlich die Frage, wie man Vertrauen schafft. Leider lässt sich diese Frage bisher wissenschaftlich nicht abschliessend beantworten. Noch vermag die Wissenschaft nicht zu erklären, wie genau Vertrauen im Gehirn entsteht. Untersuchungen zeigen aber, dass wenn die Aktivität in den für die Angst zuständigen Gehirnregionen sinkt, das Vertrauen zunimmt. Sind die Angstareale also wenig aktiv, spüren Menschen Vertrauen.Das hört sich logisch an, ist es aber nicht. Denn das Gegenteil von Vertrauen ist nicht die Angst sondern das Misstrauen. Die Angst ist aber offensichtlich das Gegenstück des Vertrauens. Vertrauen und Angst verhalten sich wie Yin und Yang, zwei einander entgegengesetzte und doch voneinander abhängige Kräfte. Dies zeigt sich auch darin, dass ohne Angst kein Vertrauen entstehen kann. Hirnscans bei Menschen, die so gut wie keine Angst spüren, zeigen, dass diese kein Vertrauen fassen können. Um zu vertrauen, braucht es die Angst. Sie darf jedoch nicht überhand nehmen.Gerade deshalb ist die weltweite Entwicklung, dass immer mehr politische Führer und Parteien die Ängste der Menschen schüren, so gefährlich. Unter dem Deckmantel des Patriotismus, der Selbstbestimmung und des Schutzes der eigenen Interessen ist die Angst ihr eigentliches politisches Programm. Sie versuchen der Gesellschaft das Schmiermittel des positiven Zusammenlebens zu entziehen und beabsichtigen damit Unsicherheit zu schaffen, den gegenseitigen Respekt zu mindern, das Vertrauen in die Knie zu zwingen und damit die Gesellschaft zu entzweien und daraus politisches und ökonomisches Kapital zu schlagen.Geschätzte Damen und Herren, die IDA tritt diesem unheilvollen Trend entgegen, sie führt Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur oder Religion zusammen, sie zeigt, dass Vielfalt keine Bedrohung darstellen muss. Die IDA schafft Vertrauen, fördert den gegenseitigen Respekt und stärkt damit unsere Gesellschaft als Ganzes. Die IDA ist wichtig, heute vielleicht noch wichtiger als in der Vergangenheit. Hier stellen sich fünf Weltreligionen vor und zeigen Vereine, wie sie mit der Vielfalt ihrer Mitglieder positiv umgehen. Die IDA bietet die Möglichkeit, sich ohne Berührungsängste zu informieren, gegenseitig kennenzulernen und damit Vertrauen und Respekt aufzubauen.Geschätzte Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass Sie hier an der IDA sind. Und mit Freude habe ich bereits gestern aus meinem Büro auf den Rathausplatz geblickt und mich über die grosse Schar an Schülerinnen und Schüler an der IDA gefreut. Denn was gäbe es Schlimmeres als eine junge Generation ohne Vertrauen. Es wäre eine Bankrotterklärung unserer Gesellschaft.Sehr geehrte Damen und Herren, ein solcher Anlass ist nur dank dem grossen Engagement vieler Beteiligter möglich: Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften, vieler Vereine, Schulen, Stadt und Fachstellen, sowie diverse Einzelpersonen haben diese IDA möglich gemacht. Ihnen allen möchte ich ganz herzlich für ihr grosses und wichtiges Engagement danken. Danken möchte ich auch allen Sponsoren für ihren finanziellen sowie den angehenden Radiomoderatoren von „ida on air“ und Gert Bruderer vom „Rheintaler“ für ihren journalistischen Beitrag zur Stärkung von Vertrauen und Respekt.Geschätzte Damen und Herren, bei den Recherchen für diese Ansprache habe ich in einer Harvard-Studie einen Geheimtipp für Politiker gefunden, welchen ich gerne mit Ihnen teilen möchte – vielleicht sind ja angehende Stadtratskandidatinnen oder -kandidaten unter uns. In einer Untersuchung fanden Forscher heraus, dass Menschen, die sich für Dinge entschuldigen, für die sie definitiv nichts können, als vertrauenswürdiger eingeschätzt werden. In diesem Sinne möchte mich in aller Form für das schlechte Wetter entschuldigen und wünsche ich Ihnen eine wunderbare IDA.

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