15.04.2021

Marbacher Willi Keller zeigt Fotografien aus der Psychiatrie

Wie sah der Alltag in der Schweizer Psychiatrie in den 1970er- und 80er- Jahren aus? Die Fotografen Willi Keller und Roland Schneider ermöglichen in der Ausstellung «Durch die Linse» im St.Galler Museum im Lagerhaus einen einmalig intimen, gleichwohl schonungslosen Blick hinter Anstaltsmauern.

Von Viola Priss
aktualisiert am 03.11.2022
Die Psychiatriewelt ist eine fremdartige, die parallel zur Nicht-Psychiatriewelt existiert. Wer nicht selbst darin war, ob als Patient oder zu Besuch, meidet sie meist. Fotografische Zeitdokumente aus den 1970er-Jahren sind gestellt und inszeniert, da Patientinnen und Patienten sowie das Personal für diese Szenen positioniert wurden. Die damaligen Veröffentlichungen erinnern an Werbeprospekte oder Jahrbücher.Wie es wirklich aussieht, wenn Wahn, Wirrnis und wunde Seelen Tür an Tür wohnen, haben Willi Keller 1970/71 und Roland Schneider 1988 in einer Doppelrolle als Fotograf und Pfleger beziehungsweise Patient auf ihren Bildern festgehalten. Diese zeigt das Museum im Lagerhaus in St.Gallen nun in der gemeinsamen Ausstellung «Durch die Linse».Willi Keller: der teilnehmende BeobachterDiese Welt hinter der Mauer habe ihn damals fasziniert, erklärt Willi Keller im Rückblick seine Entscheidung, sich 1963 zum Psychiatriepfleger ausbilden zu lassen. Der gelernte Fotograf wollte etwas anderes machen und ahnte nicht, wie umfassend diese Entscheidung seinen Alltag in den nächsten neun Jahren prägen sollte. «Es war wie ein Paralleluniversum, das mit der Aussenwelt wenig zu tun hatte», beschreibt der Marbacher Künstler seine Zeit in der Psychiatrie Burghölzli in Zürich.Vertrautes Beieinandersein und innere Zerwürfnisse, festgehalten von Pfleger und Fotograf Willi Keller.1970 trug die Klinikleitung die Idee einer internen Fotoausstellung an den damals 26-jährigen Pfleger heran. Es sollte etwas entstehen, was es bis dato nicht gegeben hatte: Bilder aus einer Nervenheilanstalt, die nicht gestellt sind, sondern den Alltag abbilden.Fortan hielt Keller mit der Kamera fest, was das Leben in Burghölzli prägte. Das Nebeneinander und die Monotonie einerseits, aber auch das geschäftige, fast fliessbandartige Arbeiten der Patienten auf der anderen Seite. Und auch: Die Not, die Verzweiflung, die Resignation und der Nebel, der manch einen für Jahre umgab.Weggesperrt oder beschütztDas beengte Beieinander, dokumentiert auf Kellers Schwarzweissbildern, vermittelt dem Betrachter ein Gefühl des Eingesperrtseins, sowohl räumlich als auch in der eigenen seelischen Not. In der Fotografie «Wand» gipfelt dieser Eindruck: Ein Patient blickt aus dem Innenhof die Klinikmauer empor, die, unüberwindbar hoch und von Stacheldraht umgeben, zwangsläufig an ein Gefängnis erinnert. Um ihn herum laufen drei gebückt gehende Gestalten im Schnee das Quadrat des Innenhofs ab.Und doch ist da Hoffnung im Gesicht des Patienten, ein Ausdruck, der das ganze Bild bestimmt. Sein Blick richtet sich auf den Horizont, entflieht der Enge, ein Lächeln deutet sich an. Keller hatte Hofdienst an diesem Tag und erinnert sich, dass es einer dieser Momente gewesen sei, in denen ein Fotograf spüre, genau jetzt auf den Auslöser drücken zu müssen. «Die meisten Patienten haben sich nicht eingesperrt gefühlt. Die Klinik war in erster Linie ein Schutzraum. Dort waren sie sicher.»Der Marbacher Künstler und Fotograf Willi Keller. Bild: Urs BucherSicher waren die Patienten in der Psychiatrie allerdings nur vermeintlich. Zu der klinikinternen Ausstellung sollte es nie kommen. Das marode Gebäude der Psychiatrie Burghölzli fing in der Nacht vom 6. auf den 7. März 1971 Feuer, 28 Patienten kamen in den Flammen um. Bis heute wurde die Ursache des Feuers nicht geklärt.Willi Keller wurde damit auch zum Chronisten einer klinischen Ära, die infolge des Feuers ins Zentrum der Kritik geriet. Plötzlich wollte man wissen: Wie sind diese Menschen untergebracht? Und auch: Wer sind diese Menschen? In den Folgejahren gerät Willi Kellers Arbeit zunehmend in Vergessenheit. Keller kehrt dem Pflegerdasein 1972 den Rücken und widmet sich ganz seiner künstlerischen Tätigkeit. Erst 2014 fallen ihm die Bilder wieder in die Hände und er beschliesst, seine Fotografien zu veröffentlichen. 2017 schliesslich erscheint das Buch «Eingeschlossen».Roland Schneider: der beobachtende TeilnehmerGar noch näher, noch intimer sind die 1987 angefertigten Aufnahmen des Industriefotografen Roland Schneider. Es sind Aufnahmen des eigenen Zimmers, des eigenen Ganges, der eigenen Toilette. Es sind damit auch Dokumentationen der eigenen Krise, die den Fotografen als Patienten in die Psychiatrische Klinik Solothurn führten.Im Gegensatz zu Willi Keller konnten Schneiders Fotografien in der Klinik ausgestellt werden. Unter dem Titel «Zwischenzeit oder der Weg ins Freie» leisteten sie 1988 einen Beitrag, die Kluft zwischen Aussen- und Innenwelt der Psychiatrie zu schliessen. Schneider inszenierte etwa einen «Wühltisch-Raum», auf dem 120 ausgelegte Fotografien in Klarsichtmappen zum Anfassen einluden. Schliesslich fotografierte er auch die Ausstellung und das Publikum an der Vernissage, wo die Grenzen zwischen Ärzteschaft, Ausstellungsbesuchern und Patienten verschwamm.Ein ähnlicher Wühltisch wurde auch in der aktuellen Ausstellung «Durch die Linse» im Museum im Lagerhaus aufgebaut. Denn heute umgeben psychiatrische Kliniken zwar keine Mauern mehr, die Berührungsangst mit der «Psychi» aber kann nur in jedem einzelnen Kopf abgebaut werden.Hinweis: Am Sonntag, 18. April, ist Willi Keller zwischen 11 und 12.30 Uhr im Museum im Lagerhaus, Davidstrasse 44, St. Gallen, und beantwortet Fragen. Die Ausstellung dauert bis 11. Juli 2021www.museumimlagerhaus.ch 

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