09.04.2021

«Manchmal bin ich zu sehr Realistin – aber ich kann nun mal nicht aus meiner Haut»

Gemeindepräsidentin Irene Schocher spricht im Interview über ihre ersten 100 Tage im Amt – über viele Reaktionen zu ihrer Wahl, selbst von Heimweh-Rüthnern, aber auch darüber, wie sie unbeabsichtigt Visionäre ausbremst.

Von Interview: MaxTinner
aktualisiert am 03.11.2022
Es liegt in der Natur eines Amtsübergangs, dass ein neuer Gemeindepräsident an seiner ersten Bürgerversammlung für Zahlen hinstehen muss, die ein Vorgänger produziert hat. Morgen stimmt Rüthi aber über eine Rechnung ab, die Sie zwar vertreten müssen, für die aber gleich zwei andere Gemeindepräsidenten verantwortlich waren – wie fühlt man sich dabei?Irene Schocher: Der Abschluss ist ja erfreulich. Da wäre ein schlechtes Gefühl unbegründet. Auf die Zahlen vom letzten Jahr hatte ich ohnehin keinen Einfluss. Die hat der neue Gemeinderat so zur Kenntnis genommen und wird wohl auch die Bürgerschaft so gerne zur Kenntnis nehmen. Das Budget hingegen wurde erst Anfang Jahr verabschiedet. Der Gemeinderat der letzten Legislatur hat es zwar aufgegleist, der neue Gemeinderat ist aber nochmals drüber gegangen.Mit dem Rotstift?  Es war uns ein Anliegen, den letztes Jahr vom vorhergehenden Gemeinderat beantragten und von der Bürgerversammlung genehmigten herabgesetzten Steuerfuss halten zu können. Angesichts der Unwägbarkeiten, die sich aus der Pandemie ergeben, schauten wir nun halt noch etwas kritischer, welche Ausgaben gebunden sind und welche sich möglicherweise noch optimieren lassen.Der Umfang des Jahresberichts zeigt, wie komplex das Unternehmen Gemeinde ist. Fiel Ihnen die Einarbeitung leicht? Das macht man tatsächlich nicht von einem Tag auf den anderen. Richtig bewusst, wie viele Aufgaben eine Gemeinde zu bewältigen hat, wurde mir bei der Konstituierungssitzung, als es all die Kommissionen der Gemeinde und Delegationen in den regionalen Arbeitsgruppen zu besetzen galt.Sie waren bis letztes Jahr Warenhaus- Managerin. Was hat sich mit dem neuen Job am meisten verändert? Den Detailhandel kann man nicht mit einer Verwaltung der öffentlichen Hand vergleichen. In einem Einkaufszentrum ist der Tagesablauf nicht gross planbar; man ist auf unmittelbare Vorkommnisse fokussiert. Administratives versucht man so schnell wie möglich zu erledigen, um frei zu sein für das, was der Tag mit sich bringt: ein Problem mit der Kälteanlage im Keller, ein automatisch ausgelöster Alarm wegen eines überhöhten CO2-Wertes in der Tiefgarage, eine betagte Kundin mit Rollator auf der Rolltreppe … Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendetwas Unvorhergesehenes vorfällt.Also können Sie jetzt gegenüber früher eine ruhige Kugel schieben? Gar nicht. Aber ich bin heute mehr fremdgesteuert. Eigentlich sollte die Gemeindepräsidentin mehrheitlich strategische Aufgaben wahrnehmen und weniger operative. Ich bin laufend dran, etwas zu organisieren, damit die Gemeinde ihre Aufgaben erfüllen kann.Zum Beispiel? Wir brauchten mehrere personelle Übergangslösungen für die Zeit, bis neue Mitarbeitende ihre Stelle antreten. In der Bauverwaltung – das ist noch im alten Jahr aufgegleist worden – ist zum Beispiel Thomas Ammann eingesprungen, und auf dem Grundbuchamt werden wir momentan zwei Tage die Woche von zwei Mitarbeiterinnen vom Grundbuchamt Widnau unterstützt – Christa Köppel meinte, Widnau leiste Spitexdienst für Rüthi. Und dafür bin ich sehr dankbar.Seit Ihrem Antritt hat die Gemeinde Rüthi mehrere Stellen ausgeschrieben … Sind Leute gegangen, weil Sie eine besonders strenge Chefin sind?(Schocher lacht.) Da kann ich guten Gewissens sagen, dass die Leute, die gehen, sich teils schon letzten Sommer dazu entschlossen haben, als noch gar nicht feststand, wie die Wahl ausgeht. In einem Fall stand die Kündigung auch im Zusammenhang mit einer Weiterbildung, für die wir als kleine Gemeinde keine Ausbildungsstelle bieten können.Ist es für eine kleine Gemeinde wie Rüthi schwierig, gute Leute zu halten oder Leute für eine Stelle zu finden, die nur als Teilzeitpensum angeboten werden kann? Das könnte ich so nicht sagen. Im Gegenteil. Auf eine 30-Prozent-Stelle zum Beispiel, die Anfang Jahr ausgeschrieben war, sind über 80 Bewerbungen eingegangen. Und auf die Frage von vorhin zurückzukommen: Nein, ich sehe mich nicht als strenge Chefin. Ich fördere Eigeninitiative und Verantwortungsbewusstsein. Und grad jetzt, wo es Vakanzen gibt, liegt mir viel dran, meine Mitarbeitenden zu unterstützen. Über Ostern übernahm ich beispielsweise die Stellvertretung im Bestattungsamt.Gab es in diesen 100 Tagen etwas besonders Gefreutes?  Gefreut haben mich die vielen Reaktionen. Ich werde auf der Strasse angesprochen, ich bekam unzählige Anrufe, Karten, Briefe, auch von Heimweh-Rüthnern – selbst jetzt noch. Und auch von den Mitarbeitenden wurde ich sehr herzlich aufgenommen.Und Unerfreuliches gab es auch? Es tut mir weh, dass die jetzige Situation keine Nähe zulässt. Zum Beispiel bei Geburtstagsbesuchen bei den ältesten Einwohnern. Auch, dass keine Veranstaltungen möglich sind. Es wäre gut, wenn sich das bald wieder ändern würde. Aber ich füg mich in die Situation. Das entspricht meinem Naturell. Ich bin jemand, der nach vorn schaut. Ich nehme die Situation, wie sie ist, und mach’ das Beste draus.Ihre Vorgänger haben Ihnen ein Fuder mit dicken Projekten hinterlassen: den Bau eines neuen Schulhauses, die Sanierung und Erweiterung des Clubhauses Rheinblick … Wie weit werden diese Projekte Ihre Handschrift tragen? Da ist schon viel Arbeit geleistet worden. Grundsätzlich bin ich in alle Projekte involviert, und ich bringe mich überall ein. Nicht nur zur Freude aller. An der Schulraumplanung zum Beispiel arbeitet eine Arbeitsgruppe schon längere Zeit und hat eine zukunftsgerichtete Lösung erarbeitet. Als ich Bedenken wegen der Finanzierung vorbrachte, habe ich realisiert, welche Unruhe ich reinbringe und wie ich die Visionäre in der Gruppe ausbremse. Manchmal bin ich vielleicht zu sehr Realistin – aber ich kann nun mal nicht aus meiner Haut schlüpfen. Was ich nicht möchte, ist verhindern, sondern lediglich Reali­tät und Vision zusammenbringen. Die Steuereinnahmen von den Bürgern sind nun einmal beschränkt, und es stehen auch noch weitere grosse Projekte an. Letztlich wird uns der Bürger sagen, welcher Weg für Rüthi der richtige sein wird. Ist er bereit, für eine visionäre und ganzheitliche Lösung auch einige Steuerprozente mehr aufzubringen, erhalten wir ein sehr erfreuliches Ergebnis, von dem wir alle profitieren. Vorerst besteht aber grosser Informa­tions- und Erklärungsbedarf. Sobald es die Situation zulässt, wollen wir die Bürgerin und den Bürger einbeziehen und mit ihnen über die erarbeitete Lösung diskutieren.Hätten Sie drei Wünsche frei – was wünschten Sie sich für Rüthi? Ich wünschte mir genug Raum für strategische Überlegungen, wie sich unsere Gemeinde weiterentwickeln lässt. Ich wünsche mir, die Zukunft Rüthis gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern zu gestalten. Und ich wünsche mir, dass Rüthi auch in Zukunft eine attraktive Gemeinde sein wird. Darauf möchte ich mit dem Gemeinderat hinarbeiten. Im Mai werden wir in Klausur gehen. Zum einen, um uns besser kennenzulernen, was bisher wegen der Corona-Schutzvorschriften kaum möglich war. Zum anderen, um eine Vision für die Weiterentwicklung von Rüthi für die nächsten zehn bis 15 Jahre zu erarbeiten. So gut wie alles, was wir jetzt an die Hand nehmen wollen oder auch  müssen, hängt davon ab.Rüthi hat doch bestimmt schon ein Leitbild, nach dem sich der Gemeinderat bisher gerichtet hat? Ja, das gibt es. Aber es ist schon älteren Datums. In dieser Zeit hat sich vieles geändert. Der Gemeinderat braucht nun eine neue Zielvorstellung, auf die er hinarbeiten kann.

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