11.04.2022

«Malen hilft mir, mit ADHS zu leben»

Elisabeth Künzler aus St. Margrethen ist impulsiver, zerstreuter und vergesslicher als andere Menschen. Erst als Erwachsene bekam sie die Diagnose ADHS. Therapien und Medikamente helfen ihr nun, den Alltag zu bewältigen.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 02.11.2022
«Dass ich ADHS habe, wurde schon früher vermutet», sagt Elisabeth Künzler, «die Diagnose erhielt ich allerdings erst mit 30 Jahren.» Rückblickend seien die ersten Symptome bereits in der Jugend zu erkennen gewesen. Sie sei immer etwas verträumter, zerstreuter und impulsiver gewesen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Ihre Eltern meinten stets: Elisabeth ist nun mal so. «Da ich mit den Symptomen gut klargekommen bin, gab es keine Abklärung», sagt Künzler, 34-jährig und Mutter einer Tochter.Weil sie 100 Dinge gleichzeitig begonnen hatte und nichts beenden konnte, kam es vor vier Jahren schliesslich zu einer Erschöpfungsdepression, und sie musste in eine Klinik. «Ich hatte eine unglaubliche innere Unruhe und eine verminderte Aufmerksamkeit», sagt Elisabeth Künzler, «ich konnte mich kaum auf etwas konzentrieren und war schnell abgelenkt.» Die Ärzte stellten ADHS fest.[caption_left: Elisabeth Künzler, ADHS-Betroffene]Ein Mensch mitzwei GesichternDas Gefühl, getrieben zu sein, nicht abschalten zu können und fehlende Impulskontrolle: Nicht nur bei Kindern sind das mögliche Anzeichen von AD(H)S. Auch viele Erwachsene sind betroffen – oft ohne es zu wissen. Die Abkürzung ADHS steht für das sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, mit denen Fachpersonen eine besonders starke Aufmerksamkeitsstörung beschreiben. Nach heutiger Auffassung ist ADHS das Resultat einer fehlerhaften Informationsweiterleitung zwischen den Nervenzellen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Nerven-Botenstoff Dopamin. Die genauen Ursachen sind bislang ungeklärt. Wahrscheinlich sind mehrere Faktoren für die Aufmerksamkeitsdefizitstörung verantwortlich.Nebst einer Konzentrationsschwäche und der Vergesslichkeit, zeigen sich bei Elisabeth auch Stimmungsschwankungen. Von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt lebt sie dauernd in Extremen. «Wegen harmloser Äusserungen kann die Welt untergehen», sagt die Mutter, «aber schon im nächsten Augenblick, wenn die Freundin anruft, kann alles wieder in Ordnung sein.» ADHS-Betroffene handeln blitzschnell aus dem Bauch heraus, nach dem Motto «Erst gemacht, dann gedacht». Sie fangen schnell begeistert etwas Neues an – verlieren aber bei der kleinsten Schwierigkeit jede Lust. «Durch die Krankheit entwickle ich auch schnell ein Suchtverhalten», sagt die St. Margretherin. Wenn sie sich für etwas interessiert, gibt sie 200 Prozent und investiert viel Zeit. Umgekehrt fällt es ihr schwer, sich selbst zu motivieren und rechtzeitig in die Gänge zu kommen, um Pflichten zu erledigen. Sie neigt dazu, alles bis auf den letzten Drücker hinauszuschieben und dann unter Stress die nötigen Arbeiten fertigzustellen. Während des Klinikaufenthalts habe sie dank Achtsamkeits- und Atemübungen gelernt, mit ihrer Impulsivität umzugehen. Ihr helfen die drei «M»: Malen, Musik hören und Meditieren.Auf körperliche Zeichen achten«Das Malen ist mein grösstes Hobby», sagt Elisabeth Künzler, «sonst geniesse ich meine Freizeit mit meiner Tochter. Sie ist das Wichtigste in meinem Leben.» Gemeinsam unternehmen sie Ausflüge, gehen ins Museum oder spazieren in der Natur. Obwohl ADHS ihr Leben negativ beeinflusst, kann sie der Krankheit auch Positives abgewinnen: «Ich bin eine kreative und positive Person, bin einfühlsam, empathisch und steche mit meiner lebendigen, quirligen Art aus der Masse heraus», sagt die 34-Jährige. Ausserdem ist sie glücklich, dass sie die Stärke besitzt, mit der Krankheit so gut klarzukommen. Es helfe ihr, auf ihre körperlichen Zeichen zu achten, ausgewogen zu leben und genug zu schlafen. Gegen die Vergesslichkeit und Unordnung im Alltag nutzt sie Apps zur Erinnerung, macht sich Notizzettel und Tagespläne. Als sie von der App von Gossik (siehe Zweittext) hörte, zögerte sie keine Sekunde, um am Testlauf teilzunehmen. «Ich möchte den Jungs helfen, bin aber auch interessiert an einer nützlichen App, die mir hilft, meinen Alltag besser zu ordnen.»Einerseits wünscht sie sich, mit ihrer kreativen Arbeit irgendwann Geld zu verdienen, andererseits mehr Akzeptanz gegenüber psychisch kranken Menschen. Sätze wie: «Reiss dich mal zusammen» oder «Jeder hat mal einen schlechten Tag» verletzen sie, da manche anscheinend nicht verstehen, wie schwer es ist, unter Konzentrationsschwächen und Stimmungsschwankungen zu leiden.

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