26.09.2019

Lernen in gelöster Atmosphäre

Schulkinder verblüffen mit der Lust auf konzentriertes Lernen. Willkommen beim Churermodell.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Gert BrudererEs sind keine fünfzig Jahre her, dass Ohrfeigen und Schläge zum Schulalltag gehörten. Es herrschte eine angespannte Stimmung in den Klassenzimmern. Eingeschüchterte Kinder waren abgelenkt von den Gedanken an den nächsten Übergriff des Lehrers. Zahlreich waren auch die seelischen Verletzungen.Als die in Kriessern lebende Lehrerin Doris Hutter noch ein Kind war, erlebte sie eine «sehr schlimme» Zeit in der Mittelstufe. Die Aufteilung der Klasse in zwei Reihen Buben rechts und zwei Reihen Mädchen links war bei Weitem nicht das Ärgste. Zum Glück wendete sich in der Sek alles zum Guten. Inspiriert von einem wirklich guten Lehrer, beschloss Doris Hutter, später selbst zu unterrichten.Der Verhaltensauffälligste war der LehrerLehrerin ist sie im Lüchinger Schulhaus Roosen, wo seit einem Jahr nach dem Churermodell unterrichtet wird. Bei diesem ist der Raum der dritte Pädagoge. Aber dazu später mehr. Doris Hutter sagt, sie habe sich schon bald gefragt, wie früher anders habe unterrichtet werden können.Anders heisst so, wie wohl alle es kennen: Vorne steht der Lehrer oder die Lehrerin, ihm oder ihr zugewandt sitzen an Zweiertischen die Kinder. Im Roosen-Schulhaus war es bis zum letzten Sommer auch nicht anders. «Der Verhaltensauffälligste», sagt Doris Hutter schmunzelnd, «war der Lehrer.» Beziehungsweise sie selbst.Indem sie eine Klasse unterrichtete, stand sie im Mittelpunkt. Von ihr ging alles aus und bei ihr kamen gewissermassen die Fäden zusammen.Entspannte Atmosphäre, viele PflanzenDie Anregung zu einer völlig neuen Art des Unterrichtens kam von der jüngeren Kollegin Fabienne Vitzthum. Die kannte das Churermodell von der Ausbildung her. Offen für Neues, besuchten Doris Hutter, Ursula Stoop und Edith Koller den eintägigen Lehrgang, der ihnen das Churermodell näherbrachte. Inwiefern es etwas wirklich Neues ist, brachte das Schweizer Fernsehen schön auf den Punkt: Statt Neues in eine alte Form einzufügen, werde Bewährtes in eine neue Form übertragen.Wer in Lüchingen eines der Roosen-Schulzimmer betritt, sieht Tische, Stühle, Regale und Boxen auf den ganzen Raum verteilt. Die Atmosphäre ist gelöst, es hat viele Pflanzen im Zimmer. Bei Doris Hutter haben 18 Kinder 25 Arbeitsplätze. Wer wo sitzt, ist immer wieder anders. Nach einem kurzen gemeinsamen Beginn im Kreis sucht jedes Kind sich seinen Platz.Führt das nicht regelmässig zu Streit? Hat diese Abkehr von der gewohnten Sitzordnung nicht einen Lärmpegel zur Folge, der konzentriertes Arbeiten erschwert? Wächst nicht angesichts eines Kontrollverlusts die Gefahr, dass Kinder sich ausklinken, abwesend sind oder sich anderem zuwenden?Im Schulzimmer von Ursula Stoop ist es mitten in einer Lektion erstaunlich still. Es wird gewogen, gerechnet und sehr leise geredet, wobei die kurzen Wortwechsel ganz auf die Aufgaben bezogen sind.Neben jemandem sitzen, mit dem man gern arbeitetDie neue Art des Unterrichts sei «viel besser», sagt die neunjährige Nora bestimmt, die achtjährige Lara bestätigt es. Die freie Platzwahl sei schon darum gut, weil man so immer mit jemandem arbeiten könne, mit dem man das gern tue, erklärt Nora. Nach der kurzen Meinungsäusserung wenden sich die Kinder unverzüglich wieder den Gewichten und der Waage zu, als wäre damit alles Wichtige gesagt.Maik, der bei einer Wand beschäftigt ist, sagt, wenn er einmal weniger zufrieden sei mit seinem Platz, sei das egal, er könne nächstes Mal ja wieder einen neuen wählen.Ob jemand sich allein einer Aufgabe widmet oder eine Gruppenarbeit ansteht, wirkt sich auf die Platzwahl aus. Es sind sogar Kopfhörer verfügbar. Ist ein Kind vorübergehend alleine und konzentriert mit einer anspruchsvollen Aufgabe beschäftigt, kann es sich bei Bedarf voll und ganz in die Stille zurückziehen.Zwischendurch bittet Frau Stoop zwei Kinder, den Platz zu wechseln und nun ebenfalls zu wägen. Die Lehrerin ist stets zur Stelle, wenn jemand eine Frage hat oder Hilfe braucht, sie sieht, was vor sich geht, sie ist allgegenwärtig.Bei Fabienne Vitzthum sitzen die Kinder im Kreis. So fängt die Stunde jeweils an. Grundsätzliches wird besprochen, die Lehrerin gibt wichtige Hinweise, vielleicht steht am Anfang des Lernens ein Spiel, und die Angebote, die dem individuellen Lernen dienen, haben je nach Schwierigkeitsstufe einen, zwei oder drei Sterne.«Es braucht wie bei allem zuerst etwas Mut»Professor Peter Lienhard von der Hochschule für Heilpädagogik Zürich schrieb über das Churermodell: «Das Bestechende daran ist, dass es die Basis für viele wesentliche Entwicklungen der heutigen Schule legt.»Es gibt kurze und längere Lernphasen und differenzierte Lernangebote. Wer heilpädagogisch tätig ist, kann nach dem neuen Modell besser arbeiten.Wer sich wem zuwendet, fällt weniger auf, kein Kind ist «ausgestellt». In Chur, wo das neue Modell – wie sein Name verrät – herstammt, sind sämtliche Kleinklassen gestrichen worden.Nicht nur die Kinder, auch die Lehrerinnen finden den Unterricht nach dem Churermodell schöner.Ruhiger.Harmonisch.«Es braucht wie bei allem Neuen zuerst etwas Mut», sagt Doris Hutter, doch das Risiko sei schliesslich klein, denn «zrugg chasch immer».Es sieht allerdings nicht danach aus, als sollte der Schritt zurück nötig werden.

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