04.08.2020

Leben, wo Feriengäste sich erholen

Hoch über dem Rheintal wohnen drei «Weder»-Generationen unter einem Dach: Im historischen Jugendstil-Haus Bellevue.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
«Staubfreie, ozonreiche Luft. Grossartiges Panorama. Neue Lichtanlage.» Schon um 1900 wussten die Menschen, wie man Werbung betreibt. Hugo Weder holt einen Prospekt aus jener Zeit aus einer Schublade im Stubenbuffet. Das neu erbaute Bellevue im Weiler Knollhusen an der Strasse zwischen Mohren und Reute sollte als Gasthaus und Pension Erholungsbedürftige anlocken. «Bald lief der Betrieb sehr gut, vor allem dank deutschen Gästen», sagt der 89-Jährige.Er setzt sich zu seiner Frau Annemarie und Tochter Maja an den Tisch in der ehemaligen Gaststube, die mit dunklem Holz getäfelt ist und grosselterliche Gemütlichkeit ausstrahlt. Auch heute noch nimmt das Jugendstilhaus Gäste auf. Ein Mann aus dem Kanton Solothurn, der mit seiner Frau die Ferienwohnung im zweiten Stock gemietet hat, gesellt sich zur Runde und hört Episoden über die bewegte Vergangenheit des Hauses.Nach dem letzten Tanz kam die StickereiBei den Rheintalern war das Bellevue weitherum beliebt. Hier ging man auf den Tanz und zum Kegeln. Die Blütezeit des Gasthausbetriebes endete abrupt 1914, als der erste Weltkrieg ausbrach. Die Grenzen wurden geschlossen und 1915 verkaufte Otto Sturzenegger-Brunner das Gasthaus, das sein Vater, der Gemeindeschreiber von Reute, für ihn erbauen liess. Nach dem abgewendeten Konkurs wanderte Sturzenegger nach Amerika aus.Neuer Besitzer wurde Hans Ulrich Weder aus Diepoldsau, der mit seiner Frau und den 13 Kindern ins Bellevue zog. Der Tanzsaal diente fortan nicht mehr dem Vergnügen. Die Stickerei hielt Einzug und Hugo Weders Grossvater nahm mit seiner Familie zwei Pantograf-Stickautomaten in Betrieb. Noch heute riecht es im Saal nach Metall. Eine mächtige schwarze Schifflistickmaschine, eine Saurer 1S, füllt die gesamte Länge des Raumes. Hier führte Hugo Weder das Erbe in dritter Generation weiter und stickte bis 1996, als er das Pensionsalter erreichte. Das letzte Mal ratterte die Maschine 2002. «Ich führte Interessierten das Stickhandwerk vor und habe sie zu diesem Zweck extra frisch geölt.» Hugo Weder erzählt mit fester Stimme aus einem reichen Erinnerungsschatz.Während Jahrzehnten erlebten er und seine Vorfahren Höhen und Tiefen der Textilbranche. «In der Zeit des zweiten Weltkriegs wurde kein Stich gestickt. Danach folgten in den 50-ern die besten Jahre», erzählt er. Bei der Kollektivgesellschaft U. Weder’s Erben gingen Aufträge in grossem Mass ein und sie waren gut bezahlt. 1962 begann Hugo Weder, der gelernte Schlosser, selber im Bellevue zu sticken.Wohnhaft war er mit seiner Frau und den drei Kindern während 23 Jahren in einem Haus in Rebstein. 1985 bezog das Paar die Wohnung im ersten Stock im Bellevue. Treibende Kraft war Annemarie Weder. «Ich war nie gern unten im Tal. Aber für die Kinder war es ideal, im Dorf aufzuwachsen, da in der Nachbarschaft ebenfalls viele Familien lebten.» Vor der Hochzeit war die Zürcherin aus Neftenbach Krankenschwester in Reute.In einem Paradies angekommenIn den grünen Hügeln zwischen St. Anton, dem Rheintal und dem Appenzeller Vorderland fühlte sie sich schon damals wohl. «Ich möchte nirgendwo anders wohnen», sagt Annemarie Weder.Ihre Zeit verbringt sie meistens im Garten. Die 87-Jährige pflegt mit Geduld und erstaunlicher körperlicher Belastbarkeit ein naturnahes Paradies mit Zierpflanzen und Gemüse. Sie kann alle Gewächse benennen. Über ihre grüne Oase erschienen in verschiedenen Gartenzeitschriften Artikel. Bereits die Onkel von Hugo Weder, die ehemaligen Bewohner, waren passionierte Gärtner und terrassierten das Gelände. Besonders üppig gedeihen die Chrysanthemen. Es gab Zeiten, da blühten mehr als 40 Sorten.Das Grundstück umfasst rund zweieinhalb Hektaren, der grösste Teil davon ist Wald und befindet sich in der Landwirtschaftszone. Das historische Gebäude steht zwar nicht unter Schutz, wird aber aus eigenem Interesse aufmerksam gepflegt. «Das Haus und der Umschwung ermöglichen viel Raum zum Gestalten», sagt Maja Weder, die sich den Besitz mit ihrem Vater teilt und die Ferienwohnung verwaltet. Sie wohnt mit ihrem 25-jährigen Sohn Tobias in den obersten Stockwerken.Hier wird klar, wieso auch die jüngeren Weder-Generationen am Haus hängen. Auf dem Balkon in luftiger Höhe eröffnet sich eine Weitsicht über die Baumwipfel ins Rheintal. «Die Natur ist wunderbar», sagt Maja Weder. Auch ihr Sohn ist hier seit seiner Kindheit verwurzelt. Während seines Studiums an der ETH in Zürich pendelte er trotz Wohnung in der Stadt gelegentlich ins Bellevue – in das Haus, das Heimat und Familie bedeutet.

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