Jack Griss war Lehrer in Altstätten. Bekannter ist er freilich als Schauspieler, Theaterautor oder Kabarettist der Rankweiler «Wühlmäuse» und der Altstätter «Schimpfoniker». Und nicht zuletzt als Autor und Erzähler von Gedichten und Geschichten. Solche liest er seit 22 Jahren an langen Winterabenden vor; zunächst im «Frauenhof», danach, als sich das Wirtepaar Andrea und Herbert Kohler neu orientierte, verlegte er die Geschichtenabende in Fredi Kollers «Grüntal», wo sie zu den beliebten «DezemberGrün»-Abenden wurden.Beisammensein wie früherDie Geschichtenabende mö-gen so etwas sein wie ein Auflebenlassen der Zeit vor der Erfindung von Radio und Fernsehen. Wie hätte man die langen Winterabende unterhaltsamer verbringen können, als einem Geschichtenerzähler zuhörend?! Dieses Bild mögen Andrea und Herbert Kohler vor Augen gehabt haben, als sie Jack Griss baten, in der Adventszeit im «Frauenhof» eine Auswahl seiner Geschichten vorzulesen.Beim ersten dieser Abende 1998 im «Frauenhof» sassen noch alle, samt den Wirtsleu-ten, an einem einzigen grossen Tisch, erinnert sich Andrea Kohler. «Das war wirklich gemütlich», sagt Jack Griss. Beim zweiten Mal kamen bereits 50, danach war das Restaurant bis auf Einzelplätze voll. Für Herbert Kohler bedeutete dies, dass er nicht mehr mit am Tisch sitzen konnte, sondern in der Küche alle Hände voll zu tun hatte.Bereits fürs erste Mal hatte Jack Griss vorgeschlagen, den Abend musikalisch aufzulockern. Anfangs traten Schülerinnen und Schüler der Musikschule auf; später lud man bekannte Musiker aus der Region ein. Irene Garbini, Urs Stieger oder Enrico und Peter Lenzin etwa. Mehrmals traten das Quintett taktvoll, Markus Nauer und Bernhard Klas, Sandra Schmid und Andrea Steger sowie Hanspeter Küng auf. Die Aufzählung ist nicht vollständig.Was die Geschichtenabende mit Kühen zu tun habenBald war der kulinarische Teil gleichwertiger Bestandteil der Abende. Deswegen überlegten sich Jack Griss und das Ehepaar Kohler, die Abende «Ku-li-mu» zu nennen, was für «kulinarisch-literarisch-musikalisch» hätte stehen sollen. Zum Glück haben sie es bei der Überlegung belassen – jedermann hätte den Titel mit einem Kleinkind assoziiert, das auf eine Kuh zeigt, aber wohl kaum mit Geschichten, die keineswegs allesamt unbeschwert fröhlich daherkamen, sondern auch eine tragische Handlung haben konnten und einen tief berührt über sie nachdenken liessen. (Siehe als Beispiel für eine solche Geschichte «Olivers Bescherung» unten.)Die Wirtsleute, erst Kohlers, dann Koller, haben für die Geschichtenabende stets spezielle Menüs zusammengestellt. Das Kochen konnte dann und wann zu ungewöhnlichen Situationen führen. Fredi Koller erinnert sich, dass er einmal zum Mixen in den Keller hinunterging, um das Geschehen in der Gaststube nicht zu stören. Ein andermal wurden Veranstalter und Gäste vom Winter überrascht: Den Apéro nahm man bei einsetzendem Schneefall im Garten ein. Am Ende des Abends lagen auf den Autos der Gäste 20 Zentimeter Neuschnee. Während die Gäste im Restaurant der letzten Geschichte zuhörten, wischte das «Grüntal»-Personal den Schnee von den Autos. «Die Leute hatten eine Riesenfreude», erinnert sich Fredi Koller.Das Geschichtenerzählen gehört zu unserer KulturDie «DezemberGrün»-Abende dieses Jahr werden die 22. Dezemberlesungen sein – und gleichzeitig die vorläufig letz-ten. Jack Griss und Fredi Koller sind übereingekommen, wenn auch schweren Herzens, einen Schlusspunkt zu setzen. Heut’ ist aber nicht alle Tage: Jack Griss schliesst nicht aus, die kulinarisch-musikalischen Lesungen an einem andern Ort, vielleicht auch in anderer Form, fortzuführen und damit das Geschichtenerzählen und das Geschichtenhören als Kulturgut zu pflegen.Darauf zielt auch das «Mulohr» ab. «Mulohr» steht für «von Mund zu Ohr» oder in Mundart eben für «vum Mul is Ohr». Bei diesen Treffen liest nicht nur Jack Griss. Jede Besucherin und jeder Besucher ist eingeladen, eine eigene Geschichte zu erzählen, egal ob sie erfunden ist oder sich so zugetragen hat. Diese Anlässe finden viermal im Jahr mittwochs um 17.30 Uhr statt. Um diese Zeit, weil man auch gerne Kinder und Jugendliche dabei hätte. Damit auch sie die Kultur des Geschichtenerzählens weitertragen.HinweisDie letzten «DezemberGrün»- Abende finden am Donnerstag, 5., Mittwoch, 11., und Donnerstag, 19. Dezember, statt. Beginn ist jeweils um 19 Uhr. Reservation (zwingend) auf Telefon 071 755 19 44 oder per E-Mail an rest.gruental@bluewin.ch. Olivers BescherungEin Müsterchen aus Jack Griss’ mittlerweile beträchtlichen Sammlung an Geschichten. «Olivers Bescherung», eine nachdenklich stimmende Weihnachtsgeschichte, las er 2001.Mit traditionellem Feiertagsgehabe hatte Oliver nichts am Hut. Die ganzen Dinge mit Weihnachtsbaum, Geschenkpäckchen oder gar etwa Mitternachtsmesse kommentierte er knapp mit: «Alles Scheisse, Mann!»Die Eltern Olivers bemühten sich redlich, für die Haltung und die Kommentare ihres 17-jährigen Sohnes einigermassen Verständnis zu gewinnen. Immer hatte er es gut bei ihnen gehabt im gutbürgerlichen Haushalt. Er hatte alle Spielzeuge erhalten, die er sich gewünscht hatte, jeweils an Weihnachten, wenn das Christkind wieder einen vollen Gabentisch und einen Superbaum hergezaubert hatte. Auch das Jahr hindurch musste Oliver auf nichts verzichten, und er war bis vor zwei Jahren ein braver Sohn und der ganze Stolz seiner Eltern gewesen.Seit er in der weiterbildenden Schule war, schien sich Oliver vom ganzen Stolz eher zum ganzen Kummer verändert zu haben. Weder seine Mutter und schon gar nicht sein stets gestresster Vater wussten genau zu sagen, wo und mit wem Oliver den grössten Teil seiner Freizeit verbrachte.«Ja, wo treibt sich der Junge denn die ganze Zeit herum?! Verdammt noch mal, ich arbeite das ganze Jahr wie ein Tier, um uns ein angenehmes Leben zu ermöglichen, und du hockst zu Hause und weisst nicht einmal, wo sich Oliver heute, heute am Heiligen Abend befindet?! Alle seine verdammten Wünsche haben wir ihm immer erfüllt! Und jetzt, jetzt wo am Heiligen Abend Bescherung wäre, ist dein Herr Sohn natürlich nicht anwesend!», brüllte Herr Grass seine Frau am Weihnachtsabend an.Frau Grass schluchzte immer noch heftig, als es an der Haustür klingelte. Sie trocknete sich notdürftig die Tränen, öffnete die Tür. Draussen stand ein Polizist, und Frau Grass hörte wie in Trance den Polizisten sagen: «Guten Abend, Frau Grass. Entschuldigung. Ich muss ihnen leider mitteilen, dass ihr Sohn vor einer Stunde in der Toilette des Restaurants Frohsinn tot aufgefunden wurde. Er hat sich, ersten Erkenntnissen zufolge, den goldenen Schuss gegeben.»Und indem er der sprachlosen Mutter einen Zettel aushändigte, sagte der Polizist noch: «Mein Beileid!» … «und schöne Festtage», wollte er fast automatisch noch anfügen, doch er wandte sich ab und ging. (Jack E. Griss)