13.01.2021

Kurztrip in die sechstkleinste Gemeinde der Schweiz

#traveltuesday: Redaktor Remo Zollinger verschlug es über Silvester nach Bosco/Gurin, eine Gemeinde mit 46 Einwohner. Was wollte er da?

Von rez
aktualisiert am 03.11.2022
Über Silvester bestand die Möglichkeit, mit wenigen Freitagen ein langes Wochenende zu gestalten. An einem der nicht enden wollenden Arbeitstage im Spätdezember (Stress ist deutlich erbaulicher als Langeweile) streifte ich mit Google Maps mal wieder virtuell über die Welt, die zurzeit nur noch aus der Schweiz besteht. Und harrte minutenlang in Bosco/Gurin aus, einem Kaff in den Tessiner Bergen. Dahin soll es über Silvester und Neujahr gehen.Bosco/Gurin nennen 46 Menschen ihren ersten Wohnsitz. Es ist die sechstkleinste Gemeinde der Schweiz. Von Cevio im Maggiatal aus verkehren Busse nach Bosco/Gurin. In gut drei Viertelstunden überwindet das Gefährt über tausend Höhenmeter. Überraschenderweise fahren auch grosse Postautos, was ich angesichts der engen Strasse nicht erwartet hatte. Den Bus habe ich dann aber ganz für mich allein und ich wälze den Gedanken, dass der Ort bald nicht mehr vom öffentlichen Verkehr bedient wird, wenn die Auslastung so klein ist.  45 Minuten später ändere ich meine Ansicht: Auf dem Platz vor dem Hotel Walser steht ein Dutzend Menschen und wartet auf den Bus, der sie talwärts bringt. Ziemlich junge Jugendliche mit Snowboards ziehen an selbstgedrehten Zigaretten und versorgen ihr Sportgerät; Erwachsene packen ihre Schneeschuhe in den Rucksack und machen sich zur Abfahrt bereit. Alle rücken sich die Maske zurecht; ihr Sporttag ist fertig, nun gilt es, Silvester zu feiern. So sieht auch mein Plan aus. In Cevio habe ich eine Flasche Rotwein vom Monte Carasso, Käse aus dem Verzascatal und Rohschinken aus dem Mendrisiotto für mein «Dinner for One» gekauft. Auf vier Stunden allein im Hotelrestaurant habe ich nun wahrlich keine Lust.Auf den ersten Blick wirkt das Dorf nicht verschlafen, sondern lebendig. Das liegt nicht nur an den Tagesausflüglern, die das mit sieben Anlagen doch beachtlich grosse Skigebiet bevölkern. Für ein Dorf mit 46 Einwohnern stehen hier nämlich entschieden zu viele Häuser. Leer stehen trotz der hohen Anzahl nur wenige. Viele sind mittlerweile zu Zweitwohnungen geworden, in denen Bänker aus Lugano und Unternehmer aus der Magadinoebene und dem Kanton Zürich dem stressigen Alltag entfliehen. Sie hauchen dem Dörfchen in dieser Zeit ebenso Leben ein wie die Wintersportler. Diese übertreiben es jedoch offenbar ab und zu: «Die Strassen des Dorfes sind keine Skipisten!» ist mehreren in Bosco/Gurin aufgestellten Warnschildern abzulesen. Nicht alle fühlen sich bemüssigt, dieser Aufschrift Folge zu leisten. Meine Unterkunft hat den Charme eines Skilagerhauses aus meiner Primarschulzeit. Das «Giovanibosco» gehört zum Hotel Walser, ist aber eine Art Jugendherberge. Und das ist zu merken: Ein Bettanzug kostet 10 Franken, ein Handtuch deren fünf. Nicht dass mich dies arm macht, doch der Begriff «Servicewüste Schweiz» kommt wohl genau von solchen Einfältigkeiten. Zudem sind die Wände wie aus Karton, die Nachbargespräche und jene im Aufenthaltsraum sind gut hörbar.Der Schnee prägt die drei Tage in Bosco/Gurin einschneidend. Jeden Tag gibt es mehr, es hudelt richtig schön. «Winterwonderland» wäre der passende Hashtag dazu, im Hintergrund säuselt Chris Rea, er fahre gerade heim, um mit der Familie Weihnachten zu verbringen. Doch so schön der Schnee ist, er hat nicht nur positive Seiten. Wanderungen ausserhalb des Dorfes sind nicht möglich, weil die Wege zu tief eingeschneit sind. Und Schlitteln will ich nicht, weil sich zumindest im Tessin zurzeit kein Spitalpersonal um mich kümmern müssen sollte. Die haben einfach zu viel zu tun und bei fast zwölf Jahren Wintersportpause ist mein Unfallrisiko vielleicht nicht einmal nur theoretisch.Aber vor der Tür liegt ja ein Dorf, das zu langen Rundgängen einlädt. Auf diesen zeigen sich eine kleine, aber eindrückliche Kirche; eine putzige Mini-Bäckerei mit noch putzigerem Postschalter sowie eine perfekte Aussicht auf das Dorf von der «Ritzberg»-Talstation aus. Die konkreten, stets viel zu adjektivgeschwängerten Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten erspare ich dir, du kannst sie in Reiseführern nachlesen, zumal mein Reisestil seit jeher nicht darin besteht, diesen hinterher zu hecheln. In der Regel reichen wenige Momente, um feststellen zu können, ob ein Ort mir etwas geben kann oder nicht. New Orleans? Sicher eine coole Stadt, aber ein Funken ist da nicht gesprungen. Bosco/Gurin jedoch ist einer der Orte, die in die erste, positive Gefühlsschublade gehören. Und schneit es so wie in jenen Tagen, wird der Ort mit jedem Zentimeter Schnee noch magischer. Obwohl ich Zeit mit dem «Spiegel»-Jahresrückblick verbracht habe, liess Bosco/Gurin Corona ein wenig in den Hintergrund rücken. Und das ist in einer Zeit, in der das Virus alles dominiert, aller Ehren wert.

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