22.04.2019

Kulturgut schneidern

In der Schweiz gibt es mehr als 700 verschiedene Trachten. Besonders die Frauentrachten unterscheiden sich nicht nur kantonal, oft sind sie auch regional unterschiedlich. Jolanda Mattle schneidert und ändert Rheintaler Werktagstrachten.

Von Ramona Riedener
aktualisiert am 03.11.2022
Ramona RiedenerDie Rheintalerin Jolanda Mattle Schneider liebt ihr Handwerk. Unter den geschickten Händen der sympathischen Trachtenschneiderin entstehen massgefertigte Rheintaler Werktagstrachten und Trachtenblusen für Damen und Herren. Sie ist auch zuständig für allerlei Änderungen und Ausbesserungsarbeiten, für Beschaffung von Stoff und Zubehör und steht Hobbyschneiderinnen mit Rat und Tat beim Selbermachen ihrer Trachtenkleidung zur Seite. Seit rund zehn bekleidet die 48-jährige Familienfrau unter dem Patronat der kantonalen Trachtenvereinigung und der Trachtenobfrau Silvia Reifler das Amt der regionalen Trachtenschneiderin. Je nachdem, ob ein eidgenössisches Jodler- oder Trachtenfest, eine Unterhaltung oder ein grosser Vereinsanlass vor der Tür steht, ist sie durchschnittlich 15 Stunden im Monat mit dieser Aufgabe beschäftigt. «Ich selber bin keine Trachtenfrau», sagt Jolanda Mattle und meint damit, dass sie sich zwar vor Jahren eine Tracht geschneidert habe, sie aber nie trage. «Wohin soll ich gehen damit?», fragt die Mutter von fünf Töchtern im Alter von acht bis 21 Jahren lachend. Wie überall in der Schweiz laufen auch im ländlich geprägten Rheintal die Menschen nicht mehr in Tracht auf den Strassen herum. Der schmucke Putz wird auch hier ausschliesslich für kulturelle Feste, Umzüge und Veranstaltungen aus dem Schrank geholt.Das Schweizer Kulturgut erlebt eine EvolutionNoch vor einigen Jahren frönte das Schweizer Brauchtum ein Schattendasein. Tracht, Ländlermusik und Volkstanz galten nicht nur bei der Jugend als verstaubt und uncool. In den volkstümlichen Vereinigungen herrschte Überalterung und es fehlte Nachwuchs. Nachdem vor rund zehn Jahren das Oktoberfest nach bayrischem Vorbild populär wurde und damit Dirndl und Lederhose in den Schweizer Kleiderschränken Platz fanden, erlebte das vielseitige Schweizer Kulturgut einen neuen Aufschwung. Bald erfreuten sich Schwing-, Jodler- und Trachtentanzfeste zunehmender Beliebtheit. Die Verbundenheit mit der Heimat tragen heute Frauen wie Männer an Folkloreveranstaltungen gerne auch äusserlich zur Schau. Wenn auch nicht gerade mit einer kompletten Tracht, dann mit einem blauen Sennenkutteli oder einem Edelweisshemd. Doch Trachten sind keine Dirndl oder Lederhosen. Im Gegensatz zu den zwar adretten, doch oft billigen Modellen im Oktoberfeststil verkörpern echte Trachten ein Kulturgut und stehen in der Schweiz unter Heimatschutz. Die mehr als 700 verschiedenen Modelle sind bezüglich Schnitt, Material, Zubehör und Machart genaustens definiert und dokumentiert. Die Schweizerische Trachtenvereinigung mit ihren 26 kantonalen Untergruppen trägt dazu bei, dass diese Originalitäten beibehalten werden. Kantonale und regionale Trachtenschneiderinnen befolgen bei ihrer Arbeit exakt diese Richtlinien. Ihre heute 14-jährige Tochter wollte auch so ein schönes Kleid haben. Mutter Jolanda erfühlte den Wunsch ihrer Zweitjüngsten. «Wegen der Tracht ging sie mit vier Jahren ins Kinderjodelchörli Rheintal und war dort rund zehn Jahre lang.» Musikalisch sind auch die anderen Familienmitglieder. Diese geben jedoch Uniform und Musikverein den Vorzug. Die meisten ihrer Kundinnen und Kunden findet die Trachtenschneiderin unter den Mitgliedern von kulturellen Vereinen wie Jodlerchöre, Trachtentanzgruppen oder Volksmusikformationen. So auch die Rheintalerin Jolanda Mattle: «In den Vereinen tragen die Frauen hier meist die Werktagstracht. Diese ist im ganzen Kanton mehr oder weniger gleich. Bei der Sonntags- und Festtagstracht gibt es schon Unterschiede, besonders zwischen der Stadt- und Landbevölkerung.» Diese seien darauf zurückzuführen, dass sich die Städterinnen früher von den Landfrauen abheben wollten und sich von Städtchen zu Städtchen mit einem noch schöneren Putz gegenseitig konkurrenzierten.Nur die beste Qualität für Material und VerarbeitungDas «Wèrchtighääs», wie sie im Rheintal sagen, ist im Vergleich zu anderen Schweizer Trachten relativ einfach und entsprechend kostengünstig. «Material, Stoff, Fichu, Strümpfe, Schuhe und Schmuck belaufen sich auf einen Wert von etwa 700 Franken. Mit Anfertigung kostet die Tracht rund 1500 Franken», sagt die Schneiderin. Günstig, im Vergleich zur St. Galler Festtagstracht, wo allein für die Kopfbedeckung, eine kunstgeschmiedeter Radhaube aus Silber- oder Goldlamé und geklöppelter Spitze, leicht mit diesem Betrag gerechnet werden muss, oder der Seidentaft für die Schürze etwa 200 Franken kostet. Doch auch bei der Werktagstracht lege man Wert auf Qualität, sagt Mattle. Die blau bedruckte Baumwolle oder der gewobene Halbleinenstoff mit eingewobenen Streublumen für den Rock seien währschaft, ebenso die längs gestreifte Schürze aus Baumwolle, Leinen oder Halbleinen. «Den Stoff für die Schürze können die Frauen selber auslesen», sagt die Schneiderin und zeigt die Stoffmuster. Eine kunstvolle Arbeit ist das gestrickte Fichu. Eine bald 80-jährige Frau beherrsche diese feine Handarbeit und liefere heute noch das Dreiecktuch, das um Schulter und Dekolleté drapiert wird. Aus Freude an der Handarbeit, denn für 100 Franken, die die Seniorin für ein Werk verlange, dürften die Stunden, die sie für ein Fichu braucht, kaum abgedeckt sein. Ähnlich ergeht es der Trachtenschneiderin Jolanda Mattle. Auch sie ist weit davon entfernt, den Kunden ihre geleistete Arbeitszeit buchhalterisch genau zu verrechnen. «Ich denke meist gar nicht daran, dass ich auch Zeit brauche für Materialbestellungen, Anproben oder Besprechungen und so verrechne ich sie auch nicht. Ausserdem frage ich mich, ob ich nicht doch zu teuer bin. Aber für mich ist es so in Ordnung. Die Arbeit macht mir Freude und ich sehe es als meinen Beitrag ans Schweizer Brauchtum.»

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