13.03.2020

«Krise kann psychisch nachwirken»

Der Zusammenhalt sei recht gross, weil sich alle die gleichen Sorgen machten, sagt Angela Brucher zu Social Distancing.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Monika von der LindenNoch vor wenigen Tagen kannte kaum jemand den Begriff Social Distancing. Und doch sollte ihn jede und jeder ab sofort beherzigen. Somit erhält jeder Einzelne einen Teil der Verantwortung, dass sich das Coronavirus nicht noch schneller ausbreitet als bisher. Dies kann Angst auslösen oder Gefühle von Einsamkeit verstärken.Angela Brucher ist Chefärztin bei den Psychiatrie-Diensten Süd. Sie ist fachlich verantwortlich für die Standorte Heerbrugg, Uznach, Rapperswil, Pfäfers und Trübbach. Angela Brucher spricht im Interview darüber, dass Social Distancing ein Akt der Solidarität ist, dieser aber auch seelisch belasten kann.Angela Brucher, welchen Gruss praktizieren Sie im Moment?Angela Brucher: Das kommt darauf an, wen ich treffe. Meistens sagen wir einfach «Hallo» und winken uns. Meinem sechsjährigen Sohn gefällt der Gruss mit dem Fuss.Wie lange haben Sie gebraucht, um sich ans Abstandhalten zu gewöhnen?Eigentlich ging es beim Begrüssen sehr schnell. Mehr Mühe habe ich, wenn ich Freundinnen treffe und mit ihnen mehrere Stunden verbringe. Normalerweise berühre ich nahestehende Menschen manchmal im Gespräch an der Schulter, am Arm oder Rücken. Das sollte man jetzt auch nicht unbedingt. Das vergesse ich hin und wieder.Vermissen Sie die Nähe zu Freunden?Ja, ich finde es sehr schwierig. Mir sind Menschen und Kontakte sehr wichtig. Ich bin sehr interaktiv und sozial. Jetzt überlege ich mir jedes Mal, ob ich Personen wirklich treffen soll, oder nicht. Wenn ich jemanden treffe, halte ich etwas mehr Abstand als sonst.Hat Social Distancing Auswirkungen auf den Zusammenhalt unserer Gesellschaft?Das denke ich im Moment nicht. Im Gegenteil, ich habe sogar das Gefühl, der Zusammenhalt ist im Moment recht gross, weil wir uns alle die gleichen Sorgen machen. Jeder und jede spricht von den gleichen Themen. Ich kann mir aber vorstellen, dass Einsamkeit ein Problem wird, gerade für Ältere, die man gar nicht besuchen soll, oder auch im Home-Office. Da sollten wir Vorkehrungen treffen, mehr telefonieren, skypen usw.Ältere Menschen und jene mit Vorerkrankung soll man nur in Ausnahmefällen besuchen. Schürt die ungewohnte Distanz die Angst vor dem Virus?In den letzten Wochen hiess es immer wieder, dass die getroffenen Massnahmen zu extrem und nicht angemessen seien. Das denke ich aber nicht. Das Virus scheint sich sehr rasch auszubreiten und wir wollen Situationen wie in Italien oder China möglichst vermeiden. Angst wiederum finde ich nicht angebracht. Bei den allermeisten verläuft eine Infektion mit dem Virus harmlos, manche merken es nicht einmal. Die Massnahmen dienen vor allem dazu, solidarisch zu sein, die älteren Menschen möglichst zu schützen sowie die Überlastung unseres Gesundheitssystems zu verhindern.Beobachten Sie, dass Menschen ernsthaft ausgegrenzt werden, nur weil sie husten oder niesen?Ja, beziehungsweise fühlt man sich selbst fast schuldig und beginnt sich zu rechtfertigen, wenn man husten oder niesen muss. Ich versuche wirklich, den nötigen Abstand zu halten und die Hygienerichtlinien einzuhalten. Dann gefährde ich auch niemanden, selbst wenn ich huste oder niese.Seit gestern ist es Veranstaltern überlassen, ob sie einen Anlass mit weniger als 100 Teilnehmern absagen. Ist der Druck für Freiwillige zu gross, eine mögliche Ansteckung zu verantworten?Ja, ich denke es würde mehr Klarheit bringen, wenn man Veranstaltungen generell absagen würde. Wir haben im Betrieb auch viele Anlässe und haben gemerkt, dass es zeitraubend ist, wenn man bei jeder Veranstaltung neu zu überlegen anfängt, ob sie durchführbar ist oder nicht.Es kursieren längst Witze über Hamsterkäufe und Hysterie. Steht dahinter Uneinsichtigkeit und Angst?Ja klar, ausserdem stecken sich die Leute mit der Angst gegenseitig an. Wenn man sieht, dass das Pasta-Regal fast leer ist, müssen alle auch noch gerade Pasta in den Wagen packen, egal, dass im nächsten Supermarkt eigentlich noch genug Pasta da wäre. Ich denke, da müssen wir uns bei der Nase nehmen und immer wieder selbst beruhigen. Von Nahrungsknappheit war jetzt weder aus China noch aus Italien bisher zu hören.Es ist nicht abzuschätzen, wie lange die Welle anhält. Wie sehr belastet die Unsicherheit den Einzelnen und die Gesellschaft?Ich denke sehr. Normalerweise haben wir einen recht geregelten Alltag und eine Planungssicherheit. Ich zum Beispiel habe fixe Termine für Sport, mit Freundinnen etc. Ich hatte über Ostern Ferien gebucht, viele Termine bei der Arbeit. Dieses ganze Programm vermittelt Halt und Sicherheit. Aktuell fällt das meiste weg – und täglich gibt es neue Anweisungen. Das verunsichert sehr und verlangt den Menschen viel Kraft und Ressourcen ab. In der Krise hal-ten wir Menschen im Sinne einer Überlebensstrategie meist durch. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Krise psychisch nachwirkt und wir später, vielleicht im Herbst, Patientinnen und Patienten sehen, die diese Zeit mit uns psychotherapeutisch aufarbeiten wollen.Viele Menschen erfahren sonst schon zu wenig Nähe. Kann Social Distancing auf Dauer schlimmere Folgen haben, als eine Ansteckung mit dem Virus.Das ist die Frage. Das ist individuell, da der Schweregrad der Erkrankung sehr individuell ist. Wir als Gesellschaft sollen sicher in den nächsten Wochen darauf achten, in Kontakt zu bleiben via elektronischer Medien. Wir können mit unseren Verwandten in Alters- und Pflegeheimen telefonieren. Wir können Briefe und Karten schicken, eventuell Zeichnungen von den Enkelkindern. Auch wir in der Psychiatrie planen selbst unter Quarantäne, via Telefon und Internet weiterzuarbeiten und mit Menschen, bei Bedarf, in Kontakt zu bleiben.

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