19.09.2020

Kompetenz gegen dumme Sprüche

Frauen in Führungspositionen der Industrie sind rar. Die Gründe dafür sind vielfältig, Veränderungen brauchen Zeit.

Von Andrea C. Plüss
aktualisiert am 03.11.2022
«Für die Kaderposition braucht man entweder gute Grosseltern oder genug Einkommen, um die Kinder während der Abwesenheit gut betreuen zu lassen». Das sagt Bettina Fleisch, Inhaberin und CEO der Säntis Packaging AG aus Rüthi. Vor 15 Jahren übernahm die heute 54-Jährige das Unternehmen von ihrem Onkel. Ihr Sohn ist 23 Jahre alt. Als Chefin wurde sie seinerzeit von der gesamten Belegschaft sehr gut akzeptiert, hatte allerdings auch alle Abteilungen durchlaufen und Fachkompetenzen erworben. Sprüche von Männern, in denen ihre fachlich-technische Befähigung in Frage gestellt wurden, blieben ihr auf ihrem Ausbildungs- und Berufsweg jedoch nicht erspart. Dem begegne man am besten mit Fachkompetenz ist Bettina Fleisch überzeugt.Die Vielfältigkeit fördern, Vorbehalte abbauenAuch Agata Fischer blieben solche abwertenden Bemerkungen im Berufsalltag nicht gänzlich erspart. Die 36-jährige Polin leitet den Geschäftsbereich für Ortungssysteme bei der Leica Geosystems AG. Das Unternehmen bekennt sich zum «Diversity Management», dem Bestreben, die Vielfältigkeit der Belegschaft zu nutzen und damit Produkte, Dienstleistungen, Kundenzufriedenheit und natürlich auch die Mitarbeiterzufriedenheit zu optimieren.Eine Unternehmenskultur, die sich der «Diversity» verpflichtet fühlt, ist wertschätzend, indem sie jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter in seiner Individualität begreift und einbindet und damit über den Ansatz einer Gleichstellung oder Gleichbehandlung von Mann und Frau hinausgeht. Rollenbilder oder auch Voreingenommenheiten bis hin zu geschlechterbezogenen Vorurteilen sollen abgebaut werden.Frauen trifft doppelteVoreingenommenheitFrauen in Führungspositionen in der Industrie hätten häufig mit einer doppelten Voreingenommenheit zu kämpfen, sagt Gudrun Sander, Professorin an der HSG und Direktorin des Kompetenzcenters für Diversity and Inclusion. Einerseits, weil sie eine Führungsposition innehaben und dann nochmals, wenn diese in einem sogenannt «nichttypischen» Bereich ausgeübt wird. Weibliche Führungskräfte seien eher noch im Finanz- und Dienstleistungsbereich anzutreffen und in diesen Branchen auch eher akzeptiert, so Sander.Um den Frauenanteil, der in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie gesamtschweizerisch bei 27% liegt (Zahlen zur Beschäftigung nach Positionen werden vom Industrieverband nicht erhoben), zu heben sieht Agata Fischer verschiedene Möglichkeiten: Stellenausschreibungen sollten dezidiert auch an Frauen gerichtet sein, flexible Arbeitszeiten und Unterstützung bei der Kinderbetreuung seien wichtig. Darüber hinaus wünscht sich die Managerin generell mehr Engagement der Firmen beim Thema Diversity/Vielseitigkeit sowie Mentoring-Programme und Coaching für Frauen in der Industrie.Unternehmerin Bettina Fleisch weist auf einen weiteren Ansatz hin: Es sei unabdingbar, möglichst früh auch Mädchen für technische Berufe zu begeistern. Sei es mit den vom AGV Rheintal veranstalteten Tech Days, mit den schweizweit stattfindenden «Tüftel Camps» für Schulkinder oder mit Aktivitäten, bei denen die sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) und entsprechende Berufsausbildungen und Aufstiegschancen vorgestellt werden.Wenn es jedoch weitherum an Bewerbern für Industrieberufe fehlt, ist es nicht leicht, den Frauenanteil zu erhöhen. «Wenn sich praktisch keine Mädchen für den Ausbildungsberuf Polymechanik interessieren, stockt der Prozess bereits auf der untersten Stufe», gibt Claude Stadler, Unternehmenssprecher der SFS Group zu bedenken. Rund 20% der Beschäftigten in allen Unternehmensbereichen und auf allen Ebenen des weltweit tätige Grossunternehmens sind Frauen. Der Anteil ist bei Unternehmen ähnlicher Struktur in etwa gleich.In der letztjährigen Mitarbeiterbefragung, die die SFS Group durchführte, lag die Zufriedenheitsquote der Befragten hinsichtlich Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei 80%. Immer noch haben aber mehr Frauen eine Teilzeitstelle als Männer. Gewisse Führungspositionen liessen sich schlecht im Teilzeitpensum bewältigen, jedoch böten sich für Frauen in der Industrie auch bei Teilzeitpositionen Entwicklungsmöglichkeiten, sagt Katherine Broder, die den Geschäftsbereich Bau (Hochbau) bei der Leica Geosystems AG leitet. Letztlich ginge es immer darum, individuelle Lösungen zu finden, sagt Claude Stadler, «denn Jede und Jeder betrachtet etwas anderes als vorteilhaft.»Gleichheit zu schaffen statt Individualität, beabsichtigt die Lohngleichheitsanalyse. Arbeitgeber mit mehr als 100 Beschäftigten sind nun verpflichtet, eine betriebsinterne Lohngleichheitsanalyse durchzuführen, um Lohndiskriminierungen aufgrund des Geschlechts aufzudecken.

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.