01.02.2021

Körperwärme statt Strampelhosen

Im Spital Heiden werden Neugeborene nicht mehr mit Kleidchen gewärmt, sondern bleiben stetig in Hautkontakt mit Mutter oder Vater.

Von Christa Kamm-Sager
aktualisiert am 03.11.2022
Die Tage nach einer Geburt sind eine spezielle Zeit. Das Neugeborene und seine Eltern lernen sich kennen, diese ersten innigen Stunden sind für eine tiefe Bindung zwischen Kind und Eltern wichtig. Doch nicht immer gibt es genug Ruhe und Intimität in diesen ersten Tagen. «Wir haben während der besuchsfreien Zeit im Lockdown und auch jetzt wieder bemerkt, wie ruhig es plötzlich war auf der Wöchnerinnenabteilung und wie es die Frauen geniessen, sich ganz auf das Kind konzentrieren zu dürfen», sagt Monika Fässler, Teamleiterin im Wochenbett im Spital Heiden.Fast wie in einem KängurubeutelBindung, Ruhe und Intimität: Neben einer interventionsarmen Geburtshilfe ist dies schon länger das Credo am Spital Heiden. Doch jetzt gehen die Verantwortlichen noch einen Schritt weiter. Seit dem 1. November des letzten Jahres setzt das Ausserrhoder Spital als eines von wenigen Spitälern in der Schweiz das Haut-auf-Haut-Konzept um. Dabei werden die Neugeborenen nur mit Windeln gekleidet unter ein speziell gefertigtes Bonding-Shirt auf den nackten Bauch der Mutter oder des Vaters gelegt – fast wie in einem Kängurubeutel. «Babys brauchen wie kleine Tiere die körperliche Nähe zur Mutter oder zum Vater, das ist ganz natürlich und wichtig», sagt Madeleine Grüninger, Co-Teamleiterin der Hebammen im Spitalverbund Herisau/Heiden. Ist diese körperliche Nähe gegeben, wird besonders viel vom Bindungs- und Kuschelhormon Oxytocin ausgeschüttet. Das wiederum helfe, sich in das Kind zu verlieben und ganz ohne Druck in den Stillrhythmus zu finden. «Wenn das Kind auf dem Bauch liegt bei der Mutter, ist es ein kurzer Weg zur Brust und damit zur natürlichsten Ernährung», so Madeleine Grüninger.Wer Fürsorge erfahren hat, kann fürsorglich seinEine gute, liebevolle Bindung zwischen den Eltern und dem Kind sei in den letzten Jahren zu einem grossen Thema geworden rund um die Geburtshilfe, aber auch in aktuellen Erziehungsratgebern. «Wir sehen die Folgen von gestörten Bindungen gut während der Geburt und anschliessend im Wochenbett», so Grüninger. «Nur wer Fürsorge erfahren hat, kann später auch fürsorglich sein.» Die Hebammen seien auch heute noch konfrontiert mit alten Glaubenssätzen, wie etwa, man dürfe den Säugling nicht verwöhnen und müsse ihn auch einmal schreien lassen. «Dabei geht es nur darum, die Grundbedürfnisse eines Neugeborenen zu stillen.» Es sei hoch spannend, zu sehen, wie ruhig ein Säugling werden könne, wenn man seine Zeichen gut lese und darauf eingehe. «Säuglinge sind hoch- kompetent und können mit den Eltern kommunizieren», sagt Madeleine Grüninger. Heiden ist eines der wenigen Spitäler in der Schweiz, die diese Philosophie eingeführt haben. Auch am Unispital in Basel oder in den Solothurner Spitälern wird der frühe Hautkontakt mit Hilfe von Bonding-Tüchern und Unterstützung in der Wochenbettbetreuung gefördert. In Heiden wird die Haut-auf-Haut-Philosophie jedoch mit Überzeugung konsequent umgesetzt, sofern die Eltern dies wollen.Mehr am Handy statt beim Säugling«Wir hatten das Bedürfnis, etwas zu ändern im Wochenbett», erklären Grüninger und Fässler ihre Initiative. Sie sprechen dabei auch den Umgang mit dem Handy im Wochenbett und unter der Geburt an. Sehr viele Eltern widmeten dem Handy mehr Aufmerksamkeit als den Vorgängen bei der Geburt oder ihrem Neugeborenen und verpassten so viele kleine Signale und wichtige Momente. Für die gute Entwicklung eines Säuglings sei es aber entscheidend, dass seine feinen Zeichen achtsam wahrgenommen würden. Wenn Eltern die Ruhe hätten, sich voll auf das Kind einzulassen, sei das Handy plötzlich nicht mehr das Wichtigste.Durchwegs positive RückmeldungenDie Wöchnerinnen werden aber nicht überredet, beim Haut-auf-Haut-Wochenbett mitzumachen, ihnen werde höchstens der grosse Vorteil aufgezeigt. Die Abläufe im Spital habe man auf die neue Philosophie angepasst, so finde etwa die Kinderarztvisite am Bett bei der Mutter statt und der Hautkontakt werde auch bei Untersuchen möglichst nicht unterbrochen. Die Väter würden einbezogen in das Bonding und bei ihnen, wie auch bei den Müttern, seien die Rückmeldungen durchwegs positiv. «Es ist unser Ziel, dass die Neugeborenen in den drei, vier Tagen im Spital gar nie Kleider tragen und stets im Körperkontakt bleiben. Wenn die Mutter mal duschen möchte, werden sie auch einmal in ein Baby-Säckchen gelegt», so Monika Fässler. «Wir haben jetzt schon festgestellt, dass die Neugeborenen sehr viel ruhiger sind.» In anderen Kulturen sei diese innige körperliche Nähe zum Kind ganz selbstverständlich.

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