Der in Altstätten aufgewachsene Roger Biedermann (81) war Kantonschemiker in Schaffhausen und Glarus sowie in Appenzell Inner- und Ausserrhoden.Seit 2008 lebt Roger Biedermann in Neunkrich nahe Schaffhausen. Bei einem Besuch des an Umweltthemen interessierten Altstätters in seinem Herkunftsort ist dieses Interview zur Landwirtschaft entstanden. Roger Biedermann, hat Sie das zweifache Nein zu den Agrarinitiativen im Juni enttäuscht?Roger Biedermann: Ich hatte es erwartet, hätte mir aber eine weniger deutliche Ablehnung gewünscht.Sie sind also enttäuscht.Roger Biedermann: Nein, das nicht. Die Pestizid-Initiative fand ich schlecht und die Trinkwasser-Initiative hielt ich für schlecht formuliert. Meine Empfehlung ans Initiativkomitee, den Text zu überarbeiten, wurde leider ignoriert.Über den Zustand unserer Böden und unseres Grundwassers sind Sie meines Wissens aber besorgt.Roger Biedermann: Unser grösstes Problem ist das Klima. Zudem haben wir die Stickstoffproblematik nicht im Griff. Die Überdüngung wirkt sich schlecht auf Böden, Luft und Wasser aus.Wie erleben Sie die Bereitschaft der Agrarwirtschaft, freiwillig Verbesserungen zu erreichen?Roger Biedermann: Diese Bereitschaft fehlt leider weitgehend. In der Landwirtschaftspolitik fehlen klare Ziele; und dort, wo es sie gibt, sind es teilweise die falschen. Stichwort Selbstversorgung.Ja, bitte?Roger Biedermann: Die landwirtschaftliche Nutzfläche pro Kopf der Bevölkerung ist in der Schweiz sehr gering. Wir haben zu wenig landwirtschaftlich nutzbares Land und werden nie genug haben. Folglich wird auch unser Selbstversorgungsgrad nie hoch genug sein können. Wieso müssen wir zum Beispiel allen Zucker selbst produzieren? Die halbe Menge täte es auch.Sie haben 2019 in einem Fachartikel geschrieben: «Importe sollten aus Ländern erfolgen, die besser als die Alpenländer geeignet sind, umweltgerecht Lebensmittelüberschüsse zu produzieren.» Können Sie das bitte erläutern?Roger Biedermann: Nehmen wir zum Beispiel Frankreich mit seinen vielen grossen landwirtschaftlich nutzbaren Flächen. Unser Nachbarland hat viel bessere Voraussetzungen als wir, um umweltgerecht zu produzieren. Zum Teil wird das auch getan, teils aber nicht.Reden wir von den Pestiziden. Wie lautet Ihr Vorschlag zur Verringerung der Umweltbelastung durch schädliche Pflanzenschutzmittel?Roger Biedermann: Ich bin für stufenweises Zurückbuchstabieren. Mittel, die für Bienen giftig sind, sollten verboten werden, und die zugelassenen chemischen Mittel zur Unkrautbekämpfung wären stark einzuschränken. Es müsste mehr auf Mechanik und Mischkulturen gesetzt werden. Würden zwischen stickstoffzehrenden Maisreihen Hülsenfrüchte gepflanzt, würde natürlich gebundener Stickstoff verfügbar gemacht. Vor dreissig Jahren waren die Rebberge braun, heute sind sie grün. Was bei Reben möglich ist, geht auch beim Mais.In den natürlichen Stickstoffkreislauf hat der Mensch so stark eingegriffen, dass viele schädliche Stickstoffverbindungen die Umwelt belasten - Ammoniak, Stickoxide, Lachgas oder Nitrat. Wie liesse sich das Problem in den Griff bekommen?Roger Biedermann: Mit Blick auf die Schweiz ist zu sagen: Der Stickstoff wäre im Ackerbau effizienter einzusetzen, am richtigen Ort in der richtigen Menge zur richtigen Zeit. Wir kommen zudem nicht darum herum, den Viehbestand zu verkleinern. Je mehr Futtermittel wir importieren, desto stärker wird der Stickstoff-Kreislauf belastet.Wieso wäre weniger Vieh hilfreich?Roger Biedermann: Die Schweiz hat viel Grasland. Wir sollten vor allem auf Rinder, Schafe und Ziegen setzen, denn sie veredeln Gras und Heu zu Fleisch und Milch. Schweine und Geflügel hingegen zählen zu den Allesfressern und brauchen vor allem energie- und eiweissreiche Futtermittel, also Kraftfutter. Wir sollten nicht auf Tiere setzen, die uns das Getreide wegessen. Ausserdem wäre es sinnvoller, die Abfälle, aus denen Biogas gemacht wird, den Schweinen zu verfüttern.Die Rinderzucht ist also weniger umweltbelastend als die Schweine- und Geflügelzucht?Roger Biedermann: So ist es, ja. Obschon das Rindvieh, wie wir wissen, Methan produziert.Sie schlagen als Lösungsansatz die so genannte «regenerative Milch- und Rindfleichsproduktion» vor. Was meinen Sie damit?Roger Biedermann: In der Schweiz sollten wir langfristig voll auf die Milchproduktion setzen. Damit verbunden, gibt es auch Fleisch.Nun hat sich aber die Fütterung der Wiederkäuer von der artgemässen Ernährung weit entfernt. Die Milchleistung pro Kuh soll seit 1990 um 40 Prozent gestiegen sein. Müssen wir uns von diesem Hochleistungsdenken verabschieden?Roger Biedermann: Ja, unbedingt, auch zum Wohl der Tiere. Eine Hochleistungskuh ist heute praktisch ein Traggestell für ein Euter.Lässt sich ohne die heute verfolgte Hochleistungsstrategie in der Milch- und Fleischproduktion unser Bedarf überhaupt decken?Roger Biedermann: Bei gleichbleibender Nachfrage nur mit entsprechenden Einfuhren. Die Frage ist immer, wie das Fleisch produziert wird. Zum Beispiel wird viel Rindvieh in der Pampa in Argentinien sehr umweltgerecht gehalten, wie in der Schweiz die Rinder auf der Alp. Andererseits wird das Rind in Brasilien mit Getreide und Soja hochgefüttert, was sehr schlecht ist. Allerdings ist eine differenzierte Betrachtung nötig; auch in Argentinien leben Hochleistungsrinder.Wie Sie schon angetönt haben, sollten Importe aus Ländern erfolgen, die besser als die Alpenländer geeignet sind, umweltgerecht Lebensmittelüberschüsse zu erzielen. An welche Länder denken Sie konkret, ausser dem genannten Frankreich?Roger Biedermann: Da gibt es viele: Russland, Ungarn, Dänemark, Polen. Die Schweiz und Holland sind sozusagen die Schlusslichter, auch Holland hat pro Kopf eine kleine landwirtschaftlich nutzbare Fläche. Leider lässt sich Land aber auch dann missbrauchen, wenn es in Hülle und Fülle vorhanden ist. Wie zum Beispiel in der Poebene in Italien Landwirtschaft betrieben wird, ist eine Katastrophe.Bei einer reduzierten Produktion in der Schweiz besteht die Gefahr, dass das Problem der Umweltschädigung einfach in andere Länder verlagert wird.Roger Biedermann: Ja, aber Migros und Coop sind eine Marktmacht. Sie haben die Möglichkeit, mit entsprechenden Lieferverträgen sicherzustellen, dass umweltgerecht produzierte Lebensmittel eingeführt werden. Ideal wären natürlich weltweit hohe Umweltstandards.Sie sprechen sich für eine standortgerechte und ökologisch nachhaltige Landwirtschaft aus. Was heisst standortgerecht anhand eines konkreten Beispiels?Roger Biedermann: Der Boden muss geeignet sein für das, was man auf ihm anbaut. Zum Beispiel ist es nicht sinnvoll, auf einem Moorboden Gemüse zu pflanzen. Ebenso wenig soll Weizen an einem Ort wachsen, wo die Hälfte des Düngers im Boden versickert. In den Betrachtungen der Landwirtschaft ist der Boden vielfach vernachlässigt worden.Wann ist Landwirtschaft ökologisch nachhaltig?Roger Biedermann: Wenn nach den Richtlinien der biologischen Landwirtschaft produziert wird. Allerdings ist anzumerken, dass leider auch nicht alle Biobauern standortgerecht produzieren. Letztlich muss jeder mit dem Boden auskommen, den er hat. Zudem sei angemerkt: Man darf auch einmal einen Fehler machen.Was halten Sie von der so genannten «Integrierten Produktion»?Roger Biedermann: Sie ist ein Schritt in die richtige Richtung.Was könnte die Politik zu einer umweltgerechteren Produktion beitragen?Roger Biedermann: Die Direktzahlungen könnten nach einem völlig anderen Schlüssel verteilt werden. Die Produktion von biologischen Produkten müsste man wegen deren vergleichsweise hohen Preisen stärker subventionieren. Die Summe von über einer Milliarde Franken jährlich, die in Form von Beiträgen für die Versorgungssicherheit fliesst, sollte stark verkleinert werden. Dafür wären die Beiträge für die biologische Landwirtschaft und die graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion zu erhöhen.Haben Sie Ihre eigene Ernäherungweise in den letzten zehn, zwanzig jahren geändert?Roger Biedermann: Ja, ich esse mehr Gemüse und decke meinen Fleischbedarf vornehmlich mit Rindfleisch.