25.01.2021

Kindern Geborgenheit spenden

Bei Stiegers aus Lüchingen leben nicht nur die eigenen Kinder. Seit Sommer 2016 sind sie eine Pflegefamilie.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Benjamin Schmid«Beim ersten Pflegekind ging alles sehr schnell», erinnert sich Nadja Stieger. Kurz nachdem sie und ihr Mann Simon im Sommer 2016 die Eignungsbescheinigung vom Amt für Soziales des Kantons St. Gallen bekommen hatten, erhielten sie einen Anruf der Kinder- und Jugendhilfe St. Gallen. Ob sie sich vorstellen könnten, ein zehn Tage junges Baby bei sich aufzunehmen, wurden sie gefragt, und man gab ihnen 24 Stunden Bedenkzeit. «Zwei Tage später gingen wir mit einem Maxi-Cosi in der Hand ins Spital und holten das Baby ab», sagt die 35-Jährige, «wir hatten von einem Tag auf den anderen einen Säugling im Haus.» Es sei eine bereichernde, aber aussergewöhnliche Erfahrung gewesen. Sie waren froh, dass sie einerseits diese Unterstützung leisten durften und andererseits die leibliche Mutter ihr Kind nach zehn Tagen wieder zu sich nehmen durfte. Obwohl die beiden Sozialpädagogen zunächst nur eine Notfallplatzierung für die Dauer zwischen vier bis sechs Monaten angeboten hatten, blieb ihr zweites Pflegekind zwischen 2017 und 2018 ein ganzes Jahr in ihrer Obhut. «Da die Chance für eine Rückführung in die Herkunftsfamilie bestand, wollten wir eine Platzierung in eine weitere Pflegefamilie vermeiden und das Kind durfte bei uns bleiben», sagt Simon Stieger. Gleichzeitig erhielt die Familie über Weihnachten und Neujahr Zuwachs von einem weiteren Kind. «Normalerweise können Pflegekinder über die Feiertage in ihre Herkunftsfamilie», sagt Nadja Stieger, «das war hier nicht der Fall, weshalb wir notfallmässig eingesprungen sind.»Diese Erfahrung habe dazu beigetragen, einer längerfristigen Platzierung zuzustimmen. Dank beruflichen Erfahrungen im sozialen Bereich haben Simon und Nadja Stieger erkannt, dass sie die Möglichkeit haben, als Pflegeeltern Kindern und Jugendlichen Halt und einen sicheren Ort in ihrer Familie bieten zu können. Sie sind eine von rund 330 Pflegefamilien im Kanton. Aktuell lebt das vierte Pflegekind bei ihnen.Alle haben dieselben Rechte und PflichtenAuch wenn die Entscheidung für oder wider ein Pflegekind bei den Eltern liegt, ist es ihnen wichtig, dass die eigenen drei Kinder beim Prozess mitwirken können. «Wir haben offen kommuniziert und darüber gesprochen, was auf uns zukommt und wer wie was dazu beitragen kann», sagt Nadja Stieger. Es sei ein Abwägen, ob Alter und Umstände des Pflegekindes zu ihnen und umgekehrt ihre Familie zum Kind passen würden. Auch nach dem erneuten Familienzuwachs im Sommer 2020 hielten sie an der offenen Kommunikation fest. «Wir versuchen gute Vorbilder zu sein, indem wir mit unseren Emotionen transparent umgehen und darüber sprechen», sagt der 32-jährige Simon. Allen Kindern die gleiche Zuneigung zu schenken, sei nicht immer einfach. Sich Zeit zu nehmen, Interesse zu zeigen und Verständnis entgegenzubringen sind die Basis, um den Kindern das Gefühl zu vermitteln, wertvoll und willkommen zu sein. «Alle haben dieselben Rechte und Pflichten», sagen die Sozialpädagogen. Und trotzdem sei eine gesunde Nähe und Distanz gegenüber den Pflegekindern zu wahren. Während es bei den eigenen Kindern selbstverständlich ist, sie in den Arm zu nehmen oder zu küssen, brauche es bei Pflegekindern Zeit, sich kennenzulernen und gegenseitig zu vertrauen.Sich gegenseitig beschnuppernWenn auf einmal eine Person mehr zur Familie gehört, muss jeder und jede seinen neuen Platz finden. Man wisse nicht genau, was das neue Familienmitglied erlebt hat. «Grundsätzlich kann gesagt werden, dass Pflegekinder oft traumatische Erfahrungen gemacht haben», sagt Simon Stieger. Deshalb ist es wichtig, zu Hause einen sicheren Ort zu schaffen, offen und ehrlich zu sein, zuzuhören und verlässliche Beziehungen zu stärken. Mit einfachen Gesten wie einem Augenzwinkern oder einem «high Five» können Zuneigung und Anerkennung weitergegeben werden. Oft reiche es, bewusst auf die Schultern zu klopfen oder zu sagen, das hast du gut gemacht, ich bin stolz auf dich. Das gegenseitige Beschnuppern ist eine Herausforderung. Um sie zu meistern und Sicherheit zu bieten, sind klare Grenzen und sich wiederholende Abläufe sinnvoll. Für alle Beteiligten ist es eine einschneidende Umstellung, die Fingerspitzengefühl erfordert. Man lernt sich kennen, stellt Fragen und spricht über Gefühle und Wünsche. Nach und nach wächst das gegenseitige Vertrauen und es kommt der richtige Zeitpunkt, mehr voneinander zu erfahren. «Aber es bleibt ein Kennenlernen auf Zeit», sagt Nadja Stieger. Es bestehe nicht immer die Chance, dass das Pflegekind wieder zurück in seine Herkunftsfamilie darf. Das wäre jedoch schön und wünschenswert und doch ist ein Abschied nie leicht – weder für die Eltern noch die Kinder. Das jetzige Pflegekind wird für die nächsten Jahre bei ihnen wohnen und immer einen Platz in ihrem Leben haben. Da es ihre Möglichkeiten erlauben, schliessen sie es nicht aus, einen zweiten Platz anzubieten. «Jedes Kind ist bereichernd», sagt Simon Stieger und Nadja ergänzt: «Sie werten unseren Alltag mit ihrer Lebhaftigkeit, Fantasie und Kreativität auf.»

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