Gert BrudererDer Angeklagte bestritt, was die Frau behauptete. Rhetorisch einwandfrei schilderte der Fachhochschulabsolvent und Vater zweier jugendlicher Kinder vor dem Richter seine makellose Laufbahn im Gesundheitswesen.Am 30. März des letzten Jahres, eine Viertelstunde vor Schulbeginn, soll er als Autofahrer Druck gemacht haben. Einer Frau, die ungefähr mit 40 unterwegs war, soll er so nah gekommen sein, dass sie die Frontlichter nicht mehr sah. Indem er «mit den Armen fuchtelte», habe er sie zu schnellerem Fahren gedrängt, sagte die Frau. Und dann, vor dem Fussgängerstreifen bei Elektro Nüesch, da «hat der Typ» sie überholt, obschon sich Kinder in der Nähe aufgehalten hätten.Nach der Kurve, vierhundert Meter weiter, war die Barriere unten, der Mann notgedrungen am Warten. Die Frau fotografierte das Auto, das Nummernschild, zeigte den Mann an. Letzte Woche endete das Ganze vor Gericht.Ein Autofahrer ohne ErinnerungDer Angeklagte, ohne Erinnerung an den Tag, gab sich selbstgewiss; so fahre er bestimmt nicht Auto. Er sei sich bewusst, was rücksichtsloses Fahren bedeuten kann. – Und was ist mit dem Foto? «I cha überall ä Kontrollschild fötele.»In diesem Punkt hatte der Angeklagte das Nachsehen. Das Gericht ging davon aus, dass «das Auto dort war», das habe die Zeugin, die Anzeige erstattete, «nachvollziehbar dargelegt und dokumentiert». Der Autofahrer hatte zuvor allerdings noch keck gemeint: «Wieso, hät’s ä Datum druf?» Dass es zum Freispruch kam, hatte andere Gründe. Nicht unbedingt den, dass Aussage gegen Aussage stand. Denn es sei nicht so, dass aufgrund einer einzigen Zeugenaussage kein Schuldspruch erfolgen könne, sagte der Richter.Überhaupt fiel ihm die Vorstellung schwer, dass ein Zeuge eine ihm unbekannte Person grundlos anzeigen sollte.Die Frau sagte nicht immer das GleicheNein, das Glück des Angeklagten war es, dass die Zeugin im Verfahren und dann vor Gericht nicht konsequent das Gleiche sagte, sondern einmal das und dann doch wieder etwas anderes.Und schliesslich hatte auch der Untersuchungsrichter keine Meisterleistung abgeliefert. Weshalb, kann man sich zum Beispiel fragen, war der Zeugin nur der Fahrer des fotografierten Autos gegenübergestellt worden (den sie als ihren Bedränger erkannte) und nicht eine Auswahl ähnlich aussehender Männer? Aber eben, einen Schuldspruch hat die Klägerin und Zeugin selbst am ehesten vermasselt.Es habe stark geregnet an dem Morgen, hatte sie gemeint. Tatsächlich war das Wetter gut.Das Auto, sagte sie, sei schwarz. Tatsächlich ist es dunkelblau.Einmal erklärte sie, als ihr das Auto hinter ihr so nah gekommen sei, sei sie erschrocken, doch sie hatte auch einmal gemeint, das habe sie doch nicht gejuckt.Über das eigene Tempo, den Abstand zwischen den Autos, die Länge der Strecke, auf der es zum Auffahren gekommen sei, und über das eigene Verhalten beim Fussgängerstreifen machte sie ebenfalls widersprüchliche Aussagen.Ums Überholmanöver ging es längst nicht mehr. Das Verfahren in diesem Punkt war bereits eingestellt worden. Es ging nur noch ums Auffahren – und immer wieder um die 50 Zentimeter, die der Abstand bloss betragen haben soll, was gar nicht möglich sei, wie der Verteidiger des Angeklagten meinte. «Eine Zirkusnummer wäre das.»«Sie wissen selbst am besten, wie es war»Der geforderte Freispruch wurde gewährt. Doch es war, das betonte der Richter, «kein Freispruch aus Überzeugung», sondern ein Freispruch nach dem Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten».Der Beschuldigte bekam zu hören, er wisse selbst am besten, was am Vorwurf dran sei. Und sollte er eben doch zutreffen, sei zu hoffen, dass das nun beendete Verfahren wenigstens Wirkung entfalte, zum Nachdenken anrege, Einsicht erzeuge.Die Verfahrenskosten trägt der Staat, der zudem den Beschuldigten für seine Anwaltskosten entschädigt.