22.11.2020

Kanton stuhlt Kirche aus dem Schulzimmer

Das Schulfach «Ethik, Religionen und Gemeinschaft» soll künftig allein von schulischen Lehrkräften unterrichtet werden.

Von Noemi Heule
aktualisiert am 03.11.2022
Ausgerechnet ein Schulfach, das sich laut Lehrplan mit dem Zusammenleben auseinandersetzt, schlug in den vergangenen Monaten Gräben in die St. Galler Bildungslandschaft. Soll das Wahlpflichtfach «Ethik Religionen, Gemeinschaft», kurz ERG, auch von der Kirche unterrichtet werden dürfen? Diese Frage trieb Regierung, Parlament, Schulträger und Landeskirchen um. Während Letztere für ihren Einfluss in der Volksschule kämpften, entschied die Regierung nun gegen sie. Mit einer Mitteilung lässt sie den bisherigen St. Galler Sonderweg in eine Sackgasse laufen. Ab kommendem Schuljahr ist allein die Schule für das Schulfach verantwortlich. Bis anhin entschieden die Kinder – oder deren Eltern – ab der 3. Primarschulklasse, ob sie das Fach von einer schulischen Lehrperson (ERG-Schule) oder aber von den Landeskirchen (ERG-Kirchen) besuchen wollen. Der Unterricht fand sodann zweigeteilt statt. Das Fach war zusätzlich zum reinen Religionsunterricht im Stundenplan verankert.Klingt kompliziert? War es auch. Die Schulen klagten über den organisatorischen Zusatzaufwand, Eltern waren mit der Wahlpflicht überfordert, Politiker kritisierten die Teilung des Klassenverbandes entlang der Religionsgrenzen. Ein teurer Leerlauf und von Anfang an ein KnorzDie grossen Verlierer des Entscheides sind die beiden Landeskirchen, die den Unterricht von ERG-Kirchen zusammen bestritten. Mit einer gemeinsamen Medienmitteilung taten sie am Freitag ihre Enttäuschung kund. Sie beklagen, dass nun Investitionen für den Lehrplan und die Weiterbildung der Lehrpersonen umsonst waren. Die Kirchen sprechen von rund 400000 Franken, die sie in den vergangenen drei Jahren ausgegeben haben, und rund betroffenen 100 Lehrpersonen.Die Lösung war von Anfang an ein Kompromiss. Schulen und Kirchen fanden keinen gemeinsamen Nenner und teilten das Fach deshalb auf – «eine schweizweit einzigartige Sonderlösung», wie es in der Mitteilung der Staatskanzlei heisst. Der Regierungsrat setzte eine dreijährige Frist, um den neuen Lehrplan zu evaluieren. Nach Ablauf nimmt er nun diese radikale Kurskorrektur vor.«Ich ging davon aus, dass bei der Evaluation nun Kinderkrankheiten ausgemerzt und eine Feinjustierung vorgenommen wird», sagt Martin Schmidt. Der Präsident des evangelisch-reformierten Kirchenrates ergänzt: «Organisatorische Fragen hätten auf organisatorischer Ebene geklärt werden können, statt einen der Partner vor die Tür zu stellen.» Und: «Wir hätten die ethisch-religiösen Kompetenzen gerne weiterhin eingebracht», denn der Unterricht über Religionen sei schliesslich «Champions League». Trotz des Frusts schlagen die beiden Landeskirchen einen versöhnlichen Kurs ein. «Die Kirchen begrüssen die Tatsache, dass eine jahrelange Diskussion und Unsicherheit ein Ende findet», heisst es in der gemeinsamen Mitteilung.Der versöhnliche Ton hat auch mit einem Zugeständnis zu tun: So bleiben die Schulträger nach wie vor per Volksschulgesetz verpflichtet, den Religionsunterricht in den Stundenplan aufzunehmen und dafür unentgeltlich Schulräume zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz zu ERG ist der Religionsunterricht jedoch ein Fach mit Abmeldeoption. Die Kirchen äussern lediglich das Bedenken, dass dieser Religionsunterricht nun in die Randstunden verdrängt werde.Das Fach bleibt erhaltenDamit unterscheidet sich St. Gallen nach wie vor von anderen Kantonen, die den Religionsunterricht aus dem Schulalltag gestrichen haben. «Die Landeskirchen sollen weiterhin einen hohen Stellenwert im Schulleben haben», sagt Bildungsdirektor Stefan Kölliker. «Ethik, Religionen und Gemeinschaft» soll zudem im Unterschied zu anderen Kantonen weiterhin bestehen bleiben und nicht im Fach «Natur, Mensch, Gemeinschaft» aufgehen – weil man dem R eine hohe Bedeutung beimesse. Kölliker führt nicht nur organisatorische Gründe dafür an, das Schulfach allein in schulische Hände zu geben. Sondern auch Inhaltliche: «Gerade in einem Fach wie ‹Ethik, Religionen und Gemeinschaft›, das integrativ wirken soll, ist es unsinnig, den Klassenverband zu trennen.» Die Trennung sei überdies oft entlang der Abgrenzung zwischen christlichem und nichtchristlichem Hintergrund erfolgt.Dies ist ein Argument, das in fast derselben Wortwahl bereits im Parlament gefallen ist. Ende Mai wurde im Kantonsrat ein überparteilicher Vorstoss von SVP, FDP und SP eingereicht. Die Parteivertreter fordern die Regierung auf, einen Entwurf vorzulegen, bei dem die Schule allein das Fach ERG verantwortet. Sie wollen dies gesetzlich verankert sehen. 

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