Gert BrudererWer jung ist und vielleicht von europäischer Geschichte nicht viel weiss, kann ein Gespräch mit dem gelernten Optiker als Lektion erleben. Zum Beispiel bei «Chez Max» in Heerbrugg, wo er sich ab und zu aufhält. Der «richtige Preusse», der aus dem polnischen Korridor stammt . . . – aber halt: polnischer Korridor?Das ist ein Landstreifen beidseits der Weichsel, den Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg Polen abzutreten hatte. Der polnische Korridor trennte Ostpreussen vom übrigen Deutschland, von 1920 bis zu Deutschlands Überfall auf Polen 1939.Aus diesem Korridor also brach Hans-Dieter Fritz gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Familie in Richtung Berlin auf, am 25. Januar 1945 bei minus 38 Grad, mit einem Pferdewagen. Später fuhr er 65-mal um die Welt, ein halbes Jahrhundert lang immer als BMW-Fahrer, mit Autos, die er Egon nannte. Der letzte war Egon, der Zwanzigste.Lehre in der «Stadt der Optik» gemacht1951 schloss Hans-Dieter Fritz in Rathenow seine Lehre ab. Seit ein paar Jahren erst nennt dieser Ort sich «Stadt der Optik», und Optiker hat Hans-Dieter Fritz einst gelernt, bevor er bei den Optischen Werken in Rathenow als Lehrlingsausbildner wirkte.Der Anteil der MINT-Stellen – also die Fachkräfte-Jobs für Mathematiker, Informatiker, Naturwissenschafter, Techniker – hat sich seit 1950 verachtfacht. Doch schon damals streckten Schweizer Firmen bei ihrer Suche nach Fachleuten die Fühler weit aus. Also kam Hans-Dieter Fritz zusammen mit zwei weiteren Ostlern 1958 mit dem Flugzeug in die Schweiz, um bei der Kern & Co. AG in Aarau, einem ehemaligen Messinstrumente-Hersteller, die Arbeit aufzunehmen.Bei Kern war zu dieser Zeit Heinrich Wild tätig, der das Unternehmen Heinrich Wild, Werkstätte für Feinmechanik und Optik in Heerbrugg zusammen mit dem Balgacher Unternehmer Jacob Schmidheiny sowie dem Flumser Geologen Robert Helbling gegründet hatte. Den Rheintaler Betrieb hatte Wild 1932 wegen Konflikten verlassen, um fortan seinen Erfinderungsgeist bei Kern in Aarau einzubringen, sodass jenes Unternehmen für Wild zunehmend zur Konkurrenz wurde.Der Weg zu Wild war 1960 freiIn Berlin hatte sich 1955 wieder die Normalität eingestellt, war die Angst, von Stalin eingenommen zu werden, verflogen. Die Schweiz brauchte Arbeitskräfte, und 1965 schrieb Max Frisch den berühmten Satz: «Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.»Hans-Dieter Fritz wurde schliesslich von Wild angeworben, aber aus Aarau direkt dorthin wechseln konnte er wegen bestehender Staatsabkommen nicht. Spezialisten abzuwerben, war verboten. Eine mindestens dreimonatige Arbeit in Deutschland war zwingend, bevor der Berliner zu Wild konnte, also ging er zum weltweit grössten Elektrokonzern AEG, den es seit gut zwei Jahrzehnten auch nicht mehr gibt. Der Weg zu Wild war 1960 frei: Hans-Dieter Fritz kam nach Rebstein, zu einer Schlummermutter – oder modern ausgedrückt: zu einer Zimmervermieterin. «Als wir Ostler zu Wild kamen, hatte Rebstein sicher 15 Restaurants, drei Fernseher und noch keinen Block», sagt Hans-Dieter Fritz.Den Rucksack längst abgelegtBei Wild Heerbrugg machte der Rucksackberliner die kleinste Linse der Welt. 1,2 Millimeter betrug ihr Durchmesser, verwendet wurde sie für die Frontlinse eines Objektivs.Zu jener Zeit sei es nicht selten gewesen, dass Schweizer von deutschen Optikern viel lernen konnten. Inzwischen sei er von den zu seiner Zeit aus Richtung Berlin eingewanderten Wild-Fachkräften der letzte noch lebende. Dem Wirtschaftszweig wandte er zwar irgendwann den Rücken zu, um in die Autobranche zu wechseln und selbstständig zu werden. Letztes Jahr erst – 85-jährig – legte er die Arbeit nieder.Ausgerechnet das rechte Auge, eine Thrombose, bereitete dem Optiker jüngst ein Problem. Zudem hört er nicht mehr gut. Doch seine Einstellung zum Leben hat nicht gelitten. «Jeder Tag ist ein Geschenk», sagt Hans-Dieter Fritz. Ein besonderer Tag wird für ihn der 26. April 2021 sein. Dann würde das einstige Rheintaler Unternehmen Heinrich Wild, bestünde es noch, den hundertsten Geburtstag feiern.Als Rucksackberliner, also jung nach Berlin zugewanderter Mensch vom Land, hatte Hans-Dieter Fritz vor 73 Jahren die Grossstadt erreicht. Im Rheintal lebt er nun seit 58 Jahren. Auch wenn sein Herz noch immer auch für «seine» Stadt zu schlagen scheint – den Rucksack hat er schon vor langem abgelegt.