11.09.2020

«Jeder sollte Hilfe annehmen»

Die Pflege von Menschen lässt sich aus mehreren Perspektiven betrachten. Drei Frauen schildern ihre.

Von Monika von der Linden
aktualisiert am 03.11.2022
Ist ein nahe stehender Mensch krank oder liegt im Sterben, stehen viele Frauen vor der Wahl. Sie müssen entscheiden, ob sie Vater, Mutter, Freund, Freundin Ehemann, Sohn oder Tochter selbst pflegen sollen oder wollen. Sie müssen abwägen, ob sie bereit und in der Lage sind, die nötige Zeit und Kraft aufzubringen. Wir haben mit drei Frauen gesprochen. Sie haben Erfahrung in der Pflege – familiäre, ehrenamtliche oder berufliche.«Dort Hilfe annehmen, wo es am schwersten fällt»Zwölf Jahre lang erlebte eine in Eichberg lebende Frau mit, wie ihr Mann mit Krebs lebte, gegen ihn kämpfte und immer mehr von der Pflege abhängig wurde. Sie begleitete ihn durch die Krankheit und im Sterben. Seit seinem Tod sind erst wenige Wochen vergangen. Sie erzählt uns ihre Geschichte, möchte aber nicht mit Namen genannt werden.Die Ehefrau wollte den Wunsch ihres Partners, daheim zu bleiben, erfüllen. «Ich bin froh, dass ich es tat. Es entspricht meiner Beziehung zu ihm und ich konnte es mir finanziell leisten», sagt sie. So wie er Höhen und Tiefen erlebte, spürte auch sie Grenzen ihrer Kraft. Es war körperlich streng, den Mann, der sich kaum mehr selbst bewegen konnte, in den Rollstuhl zu setzen. Die wenigen Wochen, die er im Spital verbrachte, nutze sie, um nachts einmal durchzuschlafen. «Mein Mann hatte keine andere Wahl, als Hilfe anzunehmen.» Die Erkenntnis übertrug sie auf sich selbst: «Jeder sollte Hilfe annehmen. Und zwar dort, wo es am schwersten fällt.» Die Ehefrau liess sich von einem privaten Spitexdienst beraten und übertrug den Profis in den letzten Wochen, ihren Mann zu waschen. «Der Abschied nahte und meine Gefühle hatten mehr Platz.»Nun ist sie alleine. Es fällt ihr schwer, wieder Ruhe zu finden. «Das halte ich aus, es gehört zum Trauerprozess», sagt sie.Sterben und Gebären muss man zuzulassenFremden Menschen beim Sterben beizustehen wählte Lucia Marquart aus Balgach. Im Auftrag des Hospiz-Dienstes Rheintal wacht die Sterbebegleiterin in der Ruhe der Nacht am Bett todkranker oder altersschwacher Menschen. «Die Tiefe des Lebens – vom Anfang bis zum Ende – interessiert mich», sagt sie. Als Kind stimmte es sie glücklich, ihre Grossmutter zum Einkaufen zu begleiten. Die aufgebahrte Grossmutter war ihre erste Begegnung mit dem Tod. Später waren es das Lebensende der Eltern, Schwiegereltern und eben fremder Menschen.Sterbende zu begleiten, betrübt Lucia Marquart nicht. «Ich sitze neben ihnen mit guten Gedanken.» Sie überträgt sie ihnen. An ihrer Kraft zehren die Einsätze kaum: «Ich schaue zu mir und finde Ausgleich in Familie, Garten und Hobbys.» Sie vermag es wirtschaftlich, ihre Zeit in Freiwilligenarbeit zu investieren, und auch Nein zu sagen. «Mein Lohn geht nicht ins Portemonnaie, er geht ins Herz.»Die Begleiterin vergleicht das Sterben mit dem Gebären. «Beides erfordert loslassen und zulassen.» Mit dem Menschen sterbe auch immer ein Teil seiner Familie. Der Verstorbene hat es geschafft, für die Hinterbliebenen geht die Trauer weiter. «Wer sich mit der Endlichkeit befasst, lebt bewusster.»Als Erika Oesch aus Marbach vor etwa dreissig Jahren ihren Beruf wählte, stieg sie in die Pflege ein. Zunächst als Gemeindekrankenschwester, später im Spital, aktuell im Qualitäts- und Sicherheitsmanagement der Langzeitpflege. «Mich interessieren der Mensch, seine Biografie und das, was daraus entstehen kann», sagt sie. Sie schenkt seit jeher den Erkrankten ihr Mitgefühl. «Das hat mich menschlich gefordert und geformt.» Früher fühlte sie mit jedem. Heute verlangt das System von den Pflegefachleuten, dass sie sich mehr abgrenzen. «Ich möchte nicht so weit gehen, dass ich nicht mehr empathisch sein könnte.» Das empfände sie als eine Einschränkung ihrer Berufung. «Wir müssen aufpassen, dass der Mensch nicht aus dem Fokus rutscht und wir ihm immer Respekt entgegenbringen.»Die Zusammenarbeit mit Medizinern sei inzwischen beser vernetzt, sagt Erika Oesch. Sie arbeiten mehr interdisziplinär und sind eher bereit als früher, mit Pflegefachleuten zu diskutieren. «Im Gesundheitswesen bist du auf dein Pendant angewiesen.»HinweisIn zwei Wochen finden die kommunalen Wahlen statt. Die Redaktorinnen dieser Zeitung fangen im Vorfeld die Stimmung der Frauen im Rheintal ein und schildern verschiedene Perspektiven.

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