Offen über Suizid zu sprechen ist schwer. Suizid ist immer noch ein Tabu. Käthi Witschi ist bereit, das Tabu aufzubrechen und mit ihrer Geschichte zu zeigen, dass es Wege gibt, mit einem solchen Ereignis umzugehen und weiterzuleben. Tage mit Tränen gibt es nur noch wenige. Tage, an denen die Erinnerungen die 65-Jährige aufwühlen. Doch während des Interviews kommen Gefühle hoch. Sie lässt es zu, ist erstaunt, wie sehr sie sich zurückversetzt fühlt. 13 Jahre ist es her, seit sich ihr Sohn als junger Erwachsener das Leben nahm. Floskeln wie «Zeit heilt Wunden» perlen an ihr ab. Im Schmerz gebe es keinen Anfang und kein Ende. «Nur ein mehr oder weniger.» Nach dem Verlust war es zentral für die Diepoldsauerin, Hilfe von der Fachstelle Trauer nach Suizid anzunehmen.«Es dauerte vier Monate, bis ich mich meldete», sagt Käthi Witschi. «Ich dachte zuerst, ich schaffe es. Aber nach vier Monaten waren die Batterien leer.» Der Hausarzt verwies sie an die psychiatrische Tagesklinik. Mit vier Schachteln Medikamenten verliess sie das Gebäude. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, vollzog sich eine Wende, wie sie der Trauer begegnen wollte. Sie sagte nein zu den Medikamenten: «Das ist nicht mein Weg.» Dieser Widerstand löste Kraft in der trauernden Mutter aus. Sie erinnerte sich an eine Zeitungsnotiz mit Infos der Fachstelle, die ihr jemand kurz nach dem Tod ihres Sohnes anonym in den Briefkasten legte. Sie war bereit, Kontakt aufzunehmen.Das starke Bedürfnis,
sich auszutauschenOft melden sich Betroffene und möchten bei einer Selbsthilfegruppe teilnehmen. «Das bieten wir aber ganz bewusst nicht an», sagt Barbara Stehle, Leiterin der Fachstelle. «Weil es uns wichtig ist, die Gesprächsrunde zu betreuen.»In einem Einzelgespräch erfährt sie, wo die Person im Trauerprozess steht. Wer in eine Gruppe kommt, muss stabil genug sein, um auch andere, schwierige Geschichten Betroffener auszuhalten. Die Theologin beobachtet, dass sich Hinterbliebene je länger je früher melden. Noch vor der Beerdigung oder ein bis zwei Monate später. Die erste Phase sei intensiv: «Ich werde als Garantin dafür angesehen, dass es wieder gut wird», sagt Barbara Stehle. «Das kann ich nicht versprechen. Betroffene müssen den Suizid selber bewältigen, aber sie sind begleitet.»Trauer verändert sich,
aber sie bleibtKäthi Witschi stiess damals zu einer bestehenden Gruppe mit acht Frauen, deren Partner oder Kinder sich das Leben nahmen. «Ich sass in einem Zimmer und hörte, wie sich die Frauen lachend näherten. Das Lachen irritierte mich», sagt sie. «Aber irgendwie tat es auch gut. Es bricht etwas auf, wenn man merkt, dass man nicht allein ist mit dem Ganzen.»Käthi Witschi lernte in der Gruppenarbeit, dass der Suizid ihres Sohnes nicht ihr ganzes Leben bestimmen soll. «Es ist geschehen, aber die Trauer darf nicht das ganze Leben durchwachsen», sagt sie. «Es soll in mir einen Raum dafür geben, aber auch Raum für anderes, und diese beiden Räume muss ich trennen. Verdrängen ist nicht die Lösung, das wollte ich nicht.» Ziel sei es, dankbar zu sein für die gemeinsamen Jahre.In der Anfangszeit nach einem Suizid sind jedoch der Schmerz und die Trauer überwältigend. Auch Wut kann aufsteigen. «Bei mir nicht. Nie», sagt Käthi Witschi. «Ich weiss aber aus der Gruppe, dass Wut in der Trauer vorkommen kann.» Auch ihr Mann und die Tochter waren intensiv belastet. So stark, dass es schwierig war, sich gegenseitig zu helfen. Die Reaktionen auf eine traumatische Erfahrung sind in der ersten Zeit sehr verschieden: Die einen erstarren, andere schreien, wieder andere flüchten sich in einen Putzfimmel. Auch körperliche Symptome wie Herzrasen, Schmerzen, Schlaflosigkeit können auftreten. Gleichzeitig müssen sich Betroffene um rechtliche Abläufe kümmern, Befragungen der Polizei standhalten und mit der Anteilnahme des Umfeldes umgehen.In der Gruppe kommt deshalb immer wieder zur Sprache, wie man auf Fragen reagieren soll. Barbara Stehle empfiehlt ein Repertoire verschiedener Antworten. Selbstschutz steht an erster Stelle. Zu sagen: «Heute geht es nicht, ich will nicht darüber reden», ist legitim. «Niemand ist verpflichtet, anderen aus Anstand die Seele zu öffnen», sagt sie. Wenn Käthi Witschi gefragt wird, wie viele Kinder sie habe, ist das auch jetzt noch ein schwieriger Moment für sie. Sie spüre sofort, ob jemand aus Neugier frage oder bereit sei, mehr Tiefe auszuhalten. «Es muss menschlich sorgfältig sein. Dann stelle ich mich den Fragen.» Hinzu kommt, dass
sie aufgrund ihrer zahlreichen Ämter eine bekannte Person ist. Doch insgesamt helfe ein Amt. «Viele sagten mir, ich hätte viel für die Kirche getan. Die Kirche hat aber auch mir viel gegeben: Struktur, einen Sinn, Werte.»Wenn es auf Festtage zugeht, steht eine besondere Herausforderung bevor. Die Lücke der verstorbenen Person wird schmerzhaft bewusst. Für Käthi Witschi ist Weihnachten mittlerweile keine Last mehr. Obwohl es ihr recht ist, wenn die Tage vorbei sind – «aber das geht andern auch so». Einen Christbaum gibt es nicht mehr. Den Tag bewusst anders zu gestalten, kann helfen. Schwieriger als Weihnachten empfand sie in den ersten Jahren Silvester zu feiern. Sie fühlte sich ausgeschlossen inmitten glücklicher Freunde. Rundherum fand das pralle Leben statt, währenddessen sie sich zurückzog.Gestärkt die Gruppe
verlassenKäthi Witschi besuchte die Gruppe monatlich während eineinhalb Jahren, nahm Erkenntnisse und Impulse mit. Bis sie merkte, dass es Zeit war, abzuschliessen. «Sonst verweilt man in der gleichen Situation.» Gemäss Barbara Stehle ist dann eine Begleitung gelungen, wenn Hinterbliebene nach einem Suizid wieder Freude und Glück empfinden können. Käthi Witschi nickt und sagt: «Ich lebe normal, kraftvoll und gut.»HinweisIn St. Gallen ist ein Treff für Suizid-Betroffene in Planung. Ab März ist ein Angebot für betroffene Jugendliche vorgesehen und in Kürze wird eine begleitete Gesprächsgruppe gebildet. Zweittexte:Die PersonenKäthi Witschi ist Aktuarin im Verein «Trauer nach Suizid Ostschweiz». Sie präsidierte neun Jahre (bis 2018) die reformierte Kirchgemeinde Diepoldsau-Widnau-Kriessern. Zuvor war sie zehn Jahre Gemeinderätin in
Diepoldsau. Sie ist Präsidentin der Vorsynode Rheintal. Barbara Stehle wuchs in Balgach auf.
Die 57-Jährige arbeitet als freischaffende Pfarrerin und lebt in Schwellbrunn. Sie bietet Gruppen- und Einzelbegleitungen sowie Soforthilfe nach Suizid an. Die FachstelleIm August 2004 startete die erste Gesprächsgruppe. Der Suizid eines jungen Familienvaters in der Kirchgemeinde, in der Barbara Stehle als Pfarrerin tätig war, löste ihr Engagement aus. Es entstand eine konfessionell und weltanschaulich neutrale Begleitung für Menschen jeden Alters. Seit fünf Jahren besteht ein Verein, der eine Qualitätssicherung ausübt und finanzielle Mittel beschafft. (hb)www.trauer-nach-suizid.ch