06.02.2021

«Je länger der Verzicht, umso grösser die Unzufriedenheit»

Als Geschäftsführer der psychiatrischen Spitex Ostschweiz weiss Andreas Schlaszus, wie sich die Pandemie auf die Psyche auswirkt und welche Rolle dabei die Länge der Krise einnimmt. Ausserdem erzählt der Pflegefachmann, wieso man von Menschen mit psychischen Erkrankungen im Umgang mit der Krise lernen kann und wann Hilfe angebracht ist.

Von bes
aktualisiert am 03.11.2022
Herr Schlaszus, stellen Sie gegenüber dem Frühling und der Vor-Corona-Zeit eine Zunahme bei den Terminanfragen fest?Andreas Schlaszus: Bei der Psych Spitex Ost nehmen die Anmeldungen, unabhängig von Corona, jedes Jahr kontinuierlich zu. Es ist jedoch vorstellbar, dass wir, zeitlich verzögert durch Corona und den damit verbundenen Folgeerscheinungen, mehr Anfragen erhalten werden. Speziell vor den Weihnachtstagen haben wir festgestellt, dass die Angst vor dem Alleinsein grösser war als in den Jahren zuvor.Wie wirkt sich die Pandemie auf die Psyche aus?Wir machen hier von Personen abhängige, individuelle Feststellungen. Manche Klienten haben je nach Lebenssituation einen höheren Leidensdruck als andere. Dabei kommen verschiedene Einflussfaktoren zum Tragen. Bin ich allein oder habe ich einen Partner und Familie? Lebe ich bereits mit einer psychischen Erkrankung und wenn ja, wie gehe ich damit um? Habe ich einen nachhaltigen Erfahrungswert für die Bewältigung von Krisen? Wie tragfähig ist mein Helfernetzwerk? Wie gross ist die Belastung in meinem Umfeld? [caption_left: Andreas Schlaszus: "Manche Klienten haben je nach Lebenssituation einen höheren Leidensdruck als andere."]Welche Rolle spielt die Länge einer Krisenlage?Der Faktor Zeit ist entscheidend. Je länger der Verzicht auf etwas dauert, umso grösser werden die Sehnsucht und die Unzufriedenheit. Dabei geht es auch um zwischenmenschliche Bedürfnisse. Der Alltag ist nicht mehr, wie er war. Aber auch vermehrtes Zusammensein mit den gleichen Personen kann zu Spannungen führen.Wie können wir von Menschen mit psychischen Erkrankungen im Umgang mit der Krise lernen?Wenn ich mich mit meinen Klienten über die Krise unterhalte und ihnen zuhöre, bin ich beeindruckt, dass sie diese durch ihre Lebensgeschichte besser verarbeiten können. Viele kennen es, persönliche Krisen zu bewältigen, vor allem jene Klienten, die seit Jahrzehnten mit einer psychiatrischen Erkrankung leben. Sie haben gelernt, achtsam mit sich umzugehen und Strategien erarbeitet, die ihnen helfen, die Situation zu durchleben. Unsere Aufgabe besteht dann darin, dieses Wissen wieder zu aktivieren und die Wirksamkeit zu überprüfen.Wenn das alles nichts nützt: Ab wann sollte man sich Hilfe holen?Ich würde mir spätestens dann Hilfe holen, wenn man merkt, dass man es allein nicht mehr bewältigen kann, die Kräfte schwinden, die Hoffnungslosigkeit steigt, keine Perspektive mehr erkennbar ist und der Alltag nicht mehr nach den eigenen Vorstellungen bewältigt werden kann.Welche psychischen Langzeitfolgen könnte die Pandemie mitbringen?Die Pandemie löst in uns allen zusätzlichen Stress aus – und dies bereits über mehrere Monate. Wenn der Körper ständig mit Stress konfrontiert ist, werden psychische Belastung und Widerstandskraft auf eine harte Probe gestellt. Ich gehe davon aus, dass die Anzahl an psychiatrischen Erkrankungen weiter zunimmt. Schon jetzt ist die Depression die dritthäufigste nicht übertragbare Volkskrankheit.Sensibilisiert die Corona-Krise die Bevölkerung betreffend die psychische Gesundheit?Das würde ich mir wünschen. Wir beobachten, dass oftmals Personen von ihrem Umfeld vergessen werden. Dies, weil die Betroffenen entweder nicht in der Lage sind, sich selbst bei anderen zu melden, oder das Umfeld das Gefühl hat, andere würden sich schon kümmern. 

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